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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf
Autoren: K Nohr
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langweiligen Proben und beim Einschlafen ebenso.
    Es quälte ihn, dass er sich der wirklichen Dagmar nicht zu nähern wagte. Nur einmal in der gesamten restlichen Schulzeit hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm in eine Aufführung des Schülertheaters gehen würde, aber sie hatte abgewunken. Er hörte aus der Absage das erwartete globale Nein zu seiner Person heraus und betrachtete es als berechtigte Strafe für seinen Kopfsex. Er traute sich Dagmar gegenüber nicht noch einmal hervor. Das Phantasieren mit Darinx aber konnte er nicht lassen.
    Die tatsächliche Annäherung war schließlich von Dagmar ausgegangen, zwei Jahre später, als er schon auf der Musikhochschule in Detmold war und sie sich als verunsichertes Erstsemester an ihn als einzigen Bekannten wendete, um ihn dieses und jenes zu fragen. Er konnte ihr nützlich sein und wurde ihr bald unentbehrlich, weil er gewissenhaft war (Eigenschaft?) und sie chaotisch (Eigenart!).
    Herr Merse rief sich zur Ordnung. Er war erneut abgedriftet. Er wollte nicht an damals denken. Lag das an der Tablettenreduzierung? So schnell? Er faltete die Zeitung zusammen, die nicht gewirkt hatte, und holte das Horn aus dem Kasten.
    Zum Einspielen eine Tonleiter. Er wollte mit dem ersten Satz beginnen. Vier Ferienwochen, das ergab eine Woche für jeden Satz. Und jedes Mal Passagen aus dem schnellen vertrackten Allegro. Ja, er brauchte einen Übeplan. Er hatte das Brahms’sche Horntrio nur ein einziges Mal aufgeführt; während des Studiums mit zwei Kommilitonen. Sein Hornlehrer hatte mit Bestimmtheit verkündet, er könne das Studium nicht abschließen, ohne es gespielt zu haben: » Dann bist du kein Hornist.« Herr Merse verschob und verschob es, weil er sich dem Stück nicht gewachsen fühlte. Technisch ja, aber menschlich nicht. Mit der unter Druck zustande gekommenen Aufführung war er nicht zufrieden. Trotz Lobs von allen Seiten, sogar von Dagmar. War er also kein richtiger Hornist?
    Herr Merse fand die Hornistenidentität schwer fassbar und krisenanfällig. Eine Solokarriere entfiel für Hornisten. Als Streicher etwa war man keinesfalls so ergänzungsbedürftig, man hatte die Wahl zwischen Orchesterstreicher, Kammermusiker oder Solist. Als Pianist war man entweder Begleiter oder Kammermusiker oder Solist oder Orchesterpianist. Pianisten waren mit ihrer Klangfülle sowieso nicht ergänzungsbedürftig, fand Herr Merse, und immer gefragt. Als Hornist dagegen war man entweder Teil des Orchesters und saß wegen vieler Pausen in den Stücken entsetzlich lange herum, andererseits trat man im Orchester auch solistisch hervor, da das Horn oft die zentralen Stellen hat. Und alle wissen, wie schwer das Einsetzen mit dem Horn ist. Wie es zum Kicksen neigt. Die seltenen schönen Hornpassagen bei Brahms oder Strauss– das waren die lohnenden Momente eines Hornistenlebens. Herr Merse breitete dann mit dem Horn seine Flügel aus. Der Klang, weich, dunkel, männlich, füllte den ganzen Raum. Den Weltenraum! Wenn Herr Merse gut drauf war, ergänzt und getragen vom Orchester, dann konnte er ausdrucksstark sein, hatte keine Ansatzprobleme, sein Horn verströmte einen vollen, kernig-warmen Ton. Die Kollegen nickten ihm dann mit den Augen zu. Aber das brauchte es nicht. Die Freude füllte ihn ganz aus. Kammermusik war eine andere Sache. Da wurde man als Hornist von bestehenden Formationen zum Mitspielen angefragt. Man gehörte nicht richtig dazu. Wurde dazugeholt und dann wieder weggeschickt. In der Kammermusik war man unausweichlich konfrontiert mit den Eigenschaften (-arten??) der anderen. Und doch war Kammermusik das Ziel seiner Sehnsucht. Als Individuum dazugehören. Und wie die Insel Orplid ragte das Brahms’sche Horntrio an seinem Sehnsuchtshorizont auf. Und hierzu war er gefragt worden von Yvonne. Yvonne war anders. War sie wie er? Schauten ihre graublauen Augen auch nach Orplid?
    Schon wieder abgeschweift. Zum Üben nun. Herr Merse bezweifelte plötzlich, ob die klare Einteilung– für jeden Satz eine Woche– angesichts des unterschiedlichen Schwierigkeitsgrads der Sätze sinnvoll war, und ärgerte sich, nicht vorher mit seinem alten Lehrer gesprochen zu haben. Jetzt stand er mit dem Anfangsthema da: Da da da, da da da, da da da, da da da, da da da, da da da, da da da– daaaaaaaaaa summte er leise die Tonfolge vor sich hin, während er den Notenständer auseinanderzog. Er wollte die ersten Dreiergruppen als einen Bogen aufs Ziel hin denken. Wie aus der Ferne kommend, unaufhaltsam näher
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