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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf
Autoren: K Nohr
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Gesicht. Sie war Flötistin. » Die Querflöte verschlankt und veredelt mich«, sagte sie gern, » das brauche ich dringend.« Herr Merse dagegen war mager, schmal und eins neunzig groß. Zu ihm hätte die Querflöte vom Äußeren her gepasst. Er spielte aber Horn. Dagmar war nur eins einundsechzig groß. Dreißig Zentimeter Höhenunterschied zwischen ihnen. Das hatte ihn nie gestört, er hatte das Kompakte, Griffige an Dagmar gemocht. Er hatte sich ihrer aber zu sicher gefühlt, und das war sein schwerer, sein lebensverändernder Fehler gewesen. Es hatte jenseits seines Denkhorizonts gelegen, dass sie sich mit einem anderen Mann einlassen würde oder, noch unwahrscheinlicher, ein anderer Mann sich mit ihr. Und doch war es geschehen, und er hatte lange nichts davon gemerkt, da er sich mit Dagmar in einem Sicherheitskokon wähnte. Hochsicherheitskokon. Bis Dagmar ihn eines Tages konfrontiert hatte, ihm von Andreas erzählte, und dass durch die Begegnung mit Andreas alles anders sei, dass sie Zeit brauche, sich » erst mal sortieren« müsse, das in seiner Anwesenheit aber nicht könne und ihn daher bitte auszuziehen: » Nur räumlich trennen, dann sehen wir weiter.« Das hatte nicht so schlimm geklungen, und Herr Merse hatte sich noch immer sicher gefühlt. Ja, Dagmar war durcheinander geraten, herausgefallen aus dem gemeinsamen Gehäuse, aber sie würde sich » sortieren«, also besinnen, und zurückfinden zu ihm. Er war ausgezogen in der Hoffnung, seine konstruktive Art, mit dem Unfasslichen umzugehen, würde sie erst beruhigen, dann beeindrucken und schließlich umstimmen. Er hatte sich getäuscht. Nur vier Monaten später trug sie ihm die Scheidung an: » Zwei Bläser, das konnte ja nicht gut gehen mit uns«, lautete ihre finale Erklärung.
    Wieder und wieder hatte Herr Merse nach dem Zwei-Bläser-Diktum Dagmar brieflich, telefonisch, per Mail, per SMS und persönlich bedrängt. Mehrfach fing er sie auf dem Nachhauseweg ab, stellte ihr Fragen, kreiste sie mit Argumenten, Bitten, Beschwörungen ein. Was denn eigentlich ihr Problem mit ihm sei? Sie hätten doch gut miteinander gelebt. Geschlafen. Gegessen. Geredet. Hätten ihre Schüler, ihr Auskommen, ihre eigenen Räume in den Musikschulen gehabt. Sie seien sich doch zu Hause mit dem Üben nicht auf den Wecker gegangen, so seine Litanei, zwei anerkannte Musiker, die beide ungefähr gleich viele und gleichwertige Muggen in Hamburger Orchestern gehabt hatten, die sogar als Duo zusammen auftraten mit Bearbeitungen, die er selbst angefertigt hatte von berühmten Stücken, so zum Beispiel mit Duetten aus »Don Giovanni«. Ja, er gab zu: Es war eine ungewöhnliche Duo-Variante. Ja, manche lachten, wenn sie sich mit ihren Instrumenten auf Festen oder Hauskonzerten in Positur brachten und er auf dem Horn » Reich mir die Hand, mein Leben« zu ihr hin intonierte. Aber nur im ersten Moment. Denn es hatte gut zusammengepasst. Vor dem dunklen weiten Horizont seines warmen Hornklangs schwebte sie mit ihrem schmalen geraden Silberstrahl flink und geschmeidig wie eine Schwalbe hin und her. So hatte er es empfunden. So ergaben sie » ein Klangbild«. Zwei Bläser. Ha! Was sollte das heißen? Herr Merse starrte in den Koffer mit seinen Utensilien.
    Dagmars Antworten auf seine Nachsetzungen waren stets verschleiert geblieben. » Die Chemie stimmt nicht«, sagte sie etwa, und wenn er dann auf Klarheit drang, wich sie aus: » Wenn du es nicht begreifst, kann ich dir nicht helfen.« Sie hatte sogar Tristan zitiert, obwohl sie Wagner verabscheute: » Ich kann es dir nicht sagen«, oder weihevoll Lohengrin: » Nie sollst du mich befragen.« Einmal hatte sie hingeworfen: » Zweimal Blech.« Wie ein falsch angesetzter Ton war das Wort » Blech« aus ihrem Mund gescheppert, ein abschließender, verkackter Fanfarenstoß: zweimal Blech, dä dä däää.
    Danach war Herr Merse verstummt. Er hatte begriffen: Es war ein Fehler gewesen, so schnell auszuziehen. Wenn er beharrlich geblieben wäre, wenn SIE hätte ausziehen müssen, wäre sie vielleicht doch geblieben. Dagmar liebte wie er die ehemals gemeinsame Erdgeschosswohnung in Eppendorf. Ruhige Nebenstraße, praktisch zum Üben, Nähe Hochbahn, gut erreichbar; mit einem winzigen Stadtgarten davor, aus dem er ein Paradiesgärtlein gezaubert hatte ( » Hast eben den grünen Daumen«), das den Passanten Ohs und Ahs entlockte. Ja, das alles war hin für ihn. Da wohnte sie jetzt mit ihrem Andreas, einem Dirigenten, der zehn Jahre jünger war als
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