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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf
Autoren: K Nohr
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gehört, wie sie von ihm als dem Mieter der Wurstbude sprachen, der so schöne Orchideen im Fenster habe.
    Er verließ nun für vier Wochen seine Wurstbude.
    Das Horn trug er im Kasten umgeschnallt und zog seinen Rollkoffer geräuschvoll über das Pflaster– ein unvermeidlicher Lärm, der ihm unangenehm war. Seitlich fühlte er seine Umhängetasche an einem breiten Gurt über die Schulter pendeln, in die er die Notwendigkeiten für die Zugfahrt gesteckt hatte. Darunter Ricola-Bonbons. Er lutschte gern Ricola-Bonbons und hatte immer welche dabei, alle seine Schüler wussten das und baten ihn oft um eines. Eine Gymnasiastin, Sofia von dem Trio » Die Hornissen«, stürmte oft in seinen Raum, hielt inne, schnupperte mit erhobener Nase und sagte: » Orange.« Oder: » Salbei.« Oder: » Holunder.« Je nachdem. Sie hatte immer recht.
    Es war früh am Vormittag. Herr Merse fühlte die Sonne im Rücken. An der Bushaltestelle fiel ihm sein Schatten auf; mit den an ihm baumelnden Objekten formte sich eine bizarr ausladende Silhouette. Sie erinnerte ihn an den Umriss einer Reklamefigur für Sherry. Sandeman? Dry Sack? » Sandmann«, sagte er leise. » Trockener Sack«, hörte er Dagmars Stimme.
    Herr Merse war zeitig am Hauptbahnhof. Der Zug nach Sylt kam gut besetzt aus Berlin angerollt. Herr Merse ging mit langen Schritten durch das Urlaubergewimmel auf dem Bahnsteig an den Fenstern entlang, besorgt, seinen Wagen mit dem vorbestellten Sitz zu verpassen und sich dann mit dem Gepäck durch enge Gänge schieben zu müssen. » Immer eckst du an mit diesem Ding«, hörte er Dagmar. Aber da stand er am richtigen Wagen und musste auch niemanden von seinem Sitz verscheuchen, was ihm trotz seiner Reservierungsberechtigung schwergefallen wäre. Er verstaute Horn und Rollkoffer, setzte sich und legte sein Plan-und-Spar-Ticket auf dem Tischchen vor sich bereit.
    Es war ein Fensterplatz in Fahrtrichtung an einem Vierertisch, an dem schon eine Mutter mit zwei halbwüchsigen Kindern saß, einem zirka siebzehnjährigen Mädchen und einem vielleicht zehnjährigen Jungen. Als der Junge aufstand, um Herrn Merse auf seinen Platz zu lassen, musterte er interessiert den Hornkasten in der Gepäckablage, senkte aber den Blick, als er merkte, dass Herr Merse ihn ansah. Auf dem Tisch vor dem Jungen lag ein Blatt Papier mit Bleistiftkritzeleien, die er wieder aufnahm, als der Zug anfuhr. Es schienen komplizierte Labyrinthe zu sein, die er entwarf. Er wirkte vertieft. Das Mädchen gegenüber fummelte an ihrem iPod herum und hörte Popmusik, deren Rhythmen leise, aber aufdringlich ihren Weg in Herrn Merses Ohren fanden. Augenblicklich quoll in ihm ein Gefühl von Ärger und Ohnmacht auf, das nicht abgemildert wurde durch den Jugendliebreiz des rundlichen Mädchengesichts und auch nicht durch die Begrüßung der braunlockigen schlanken Mutter neben ihr, die von ihrem Buch aufsah und ihm freundlich zunickte. Er grüßte mit zusammengezogenen Augenbrauen kurz zurück, presste die Lippen aufeinander und fummelte seine Ohropax aus der Umhängetasche hervor. Er schottete sich ab.
    Der Zug ließ Stadt, Vororte, Einkaufscenter, Dörfer und versprengte Gehöfte hinter sich. Die Stöpsel im Gehörgang funktionierten, Herr Merse träumte vor sich hin. Er schaute aus dem Fenster in die flache leere Marschlandschaft. Gar nicht so lange, dann würde der Nord-Ostseekanal kommen. Er kannte die Strecke seit seiner Kindheit.
    Draußen leer, drinnen voll, dachte er. Vor seinem inneren Auge zog das Abschlussvorspiel seiner Hornklasse vorbei, die Eltern mit ihrem Lob, ihren Fragen, ihren guten Wünschen für seinen Urlaub. Sie hatten hinterher noch beisammen gesessen beim Griechen. Die Rede war auf die Präsidentenwahl gekommen, Gesine Schwan oder noch mal Köhler? Herr Merse hatte nichts dazu gesagt, weil er als Musiker meinte, sich aus Politischem heraushalten zu müssen. Dagmar hatte das natürlich nie daran gehindert, überall alles zu kommentieren: » Barenboim ist auch politisch aktiv. Guck dir sein Ost-West-Orchester an.« Mein Gott, Barenboim. Er jedenfalls nicht. Schwan oder Köhler. Ihm war es egal.
    Früher hatte Herr Merse mit Nachnamen Schwan geheißen. Er hasste den Namen, Anlass unzähliger Hänseleien. Entweder hatten die Mitschüler den Namen zu »Schwanz« ergänzt, oder er wurde mit Augenaufschlag im schwulen Bogenschwung intoniert: » Schwaaaaan«. Mit der Behandlung der Oper » Lohengrin« im Leistungskurs Musik wurde eine Negativklimax erreicht: Der
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