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Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!

Titel: Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
Autoren: Joshua Corin
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    „Hallo? Jemand dran?“
    Mist. Wie alt war sie, zwölf?
    „Hi, Tom“, stieß sie hervor.
    Stille.
    Esme zog die Knie an.
    Dann endlich: „Hallo, Esmeralda.“
    Sein Kentucky-Bariton überwältigte sie. Esmeralda. Das war nicht ihr voller Name, aber so hatte er sie immer genannt. Als ob sie damals direkt aus Quasimodos Glockenturm nach Virginia gekommen wäre. Tom Piper. Der Mentor, den sie gar nicht verdient hatte.
    „Tja …“ Esme versuchte ihre Unsicherheit zu überspielen. „Wie ist das Wetter?“
    „In Atlanta, meinst du?“
    „Zum Beispiel.“
    „Ich hatte so eine Ahnung, dass du anrufst.“
    Esme musste lächeln. Natürlich hatte er eine Ahnung gehabt! Seine Intuition grenzte schon ans Übersinnliche. Früher, als die leidenschaftlichen Nächte mit Rafe Kratzspuren auf ihrem Körper hinterlassen hatten, hatte sie immer darauf geachtet, Tom bei der Arbeit bis mindestens zehn Uhr nicht über den Weg zu laufen, damit er nichts von ihren wenig keuschen Neigungen mitbekam. Was er von ihr hielt, bedeutete ihr damals einfach alles. Was hielt er heute von Esmeralda?
    „Schlecht“, sprach er weiter. „Wir haben ungefähr sechs Leute hier, die denken, dass sie das Sagen haben, und da zähle ich den Bürgermeister, den Gouverneur und den Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht mit, die sich ebenfalls alle einmischen.“
    „Die Schreibtischhengste bekommen also ihre Wutanfälle, während die Erwachsenen den Ball flach halten und ohne großes Theater am Fall arbeiten. Vielleicht sorgen ein paar Erwachsene sogar dafür, dass die Schreibtischhengste miteinander streiten, damit die sich nicht plötzlich einmischen.“
    „Bei dir klingt das nach Machiavelli.“
    Sie kicherte. „Hey, der Zweck heiligt die Mittel …“
    „Jedenfalls ist es schlimm. Der Fall, meine ich.“
    Esme ließ ihre Knie los und lehnte sich zurück. „Kannst du darüber sprechen?“ Sie nippte an dem heißen Tee.
    Tom antwortete nicht.
    Verflucht. Sie war zu weit gegangen. Scheiße. War wohl besser, zurückzurudern, und zwar schnell …
    „Tom, tut mir leid. Ich weiß, du darfst nicht … Ich hätte gar nicht anrufen sollen. Aber egal … Also, wie geht es dir? Wie geht es Ruth?“
    „Meine Schwester kümmert sich noch immer um den Garten. Wir haben ihr sogar ein kleines Gewächshaus gebaut, damit sie sich nicht länger darüber ärgern muss, wenn die Eichhörnchen ihre Narzissen in Unordnung bringen.“
    „Das ist nett. Ihr habt es zusammen gebaut?“
    „Und das hat praktisch einen ganzen Monat gedauert. Dabei kann man weder Ruth noch mich als handwerklich begabt bezeichnen.“
    „Ich weiß.“ Esme fühlte, wie die Anspannung aus ihren Schultern wich. „Ich kann mich gut erinnern, als mal dein Auto nicht angesprungen ist. Ich sehe noch immer vor mir, wie du die Motorhaube geöffnet und dann ewig lang auf den Motor gestarrt hast, als wäre er ein Mordverdächtiger, den du zum Blinzeln bringen könntest.“
    Tom lachte. „Wir alle haben unsere Schwächen und Fehler.“
    „Und manche von uns haben sogar Starthilfekabel.“
    „Ha, ha.“
    Esme sah lächelnd aus dem Fenster. Schneeflocken wirbelten im Mondlicht. Unten in Hotlanta war es wahrscheinlich mild. Sie war einmal im August in Atlanta gewesen, und da hatte sich die feuchte Hitze angefühlt wie ein lebendiger, atmender Organismus. Kein Wunder, dass die Verbrechensstatistiken im Sommer immer in die Höhe schossen. Die Temperaturen zerkochten das Hirn der Leute zu Brei.
    Doch jetzt war Januar, und vierzehn Leute waren tot.
    „Bist du noch dran?“, fragte er.
    Sie drückte die Handfläche an die Stirn und seufzte. „Entschuldige, Tom, es ist nur … Ich habe gelesen, was gestern Nacht passiert ist und … Es ist fast sieben Jahre her, dass ich ausgeschieden bin. In der Zeit hat es andere aufsehenerregende Morde gegeben. Aber dieser Fall hier, der geht mir einfach unter die Haut … und ich weiß nicht, warum.“
    „Nicht?“ Er klang überrascht. „Was meinst du wohl, warum ich wusste, dass du anrufen würdest?“
    „Was meinst du?“
    „Der Obdachlose. Als ich hörte, dass der Mörder ihn als Köder benutzt hatte, wusste ich, dass dieser Fall dich heimsuchen würde wie ein schlechter Traum. Ich hätte beinahe dich angerufen.“
    „Der Obdachlose? Warum sollte das …“
    „Wegen deiner Eltern, Esme.“
    Oh.
    Esme schrumpfte auf ihrem Stuhl zu einem kleinen Mädchen zusammen.
    Ihre Eltern.
    Die ihr Leben lang mehr oder weniger von der Sozialhilfe gelebt
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