Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr der Schlangeninsel

Herr der Schlangeninsel

Titel: Herr der Schlangeninsel
Autoren: Stefan Wolf
Vom Netzwerk:
Zeichner einigermaßen
genau skizziert hatte.
    Tim und seine Freunde erkannten die
Insel Padoklion. Ihre bizarre Gestalt war sozusagen eingebrannt in die grauen
Zellen der TKKG-Köpfe. Zu oft hatten Gaby, Tim, Karl und Klößchen während der
letzten vier Wochen den Urlaubsprospekt angesehen, studiert, beinahe auswendig
gelernt. Auf dessen erster Seite prangte der Umriß der Insel.
    Auf dem Schatzplan war sie die größere
der beiden. Aber nicht weit von ihr dümpelte ein kleines, ein winziges Eiland
in der See. TYKOPULOS — stand groß über diesem Insel-Klecks. Und: HIER LIEGT
DER SCHATZ!
    „Das ist der allgemeine Überblick“,
sagte Karin. „Sozusagen die Seekarte für alle, die sich per Schiff oder
schwimmend den Inseln nähern. Hier haben wir Einzelheiten.“
    Das zweite Blatt zeigte Tykopulos im
Großformat.
    Die Insel hatte die Form einer Miesmuschel,
war aber an den Rändern gezähnt und gerädelt, reich an Buchten, Einschnitten
und Klüften. Felsen waren angedeutet, Palmen, Gesträuch, eine kegelförmige
Erhebung und zwei Höhlen.
    Auf Länge und Breite wurde die Insel
von zwei Strichen gerahmt, deren Enden in Pfeilspitzen ausliefen. Neben der
Länge stand: ca. 1200 Meter. Neben der Breite: ca. 900 Meter. Und rechts am
Rand war vermerkt: Vorsicht, Schlangen!
    „Alles auf deutsch“, stellte Tim fest,
„in verschnörkelter Schönschrift. Hat das dein Urgroßvater verfaßt, Karin, um
deinem Großvater eine Freude zu machen?“
    „Mit meinen Vorfahren, Tim, hat das
nichts zu tun.“
    Sie entfaltete Blatt drei, vier und
fünf.
    Die enthielten nur Text. Der
Schönschrift-Schreiber hatte viel Tinte verbraucht, die aber jetzt verblaßte.
Doch noch war alles gut lesbar.
    „Wer will vorlesen?“ fragte Karin.
    Tim griff nach den Blättern.
    „Padoklion“, las er, „dortselbst am 11.
Mai 1909, im Orte Dikti Sfakion, dem kleinen Hafen, wo ich gestrig mit meiner
Yacht und den beiden Genueser Matrosen angelegt habe. Das Wetter ist so schön,
daß es den Kaiser erfreut hätte. Kaiser-Wetter. Aber ich bin nicht unser
erlauchtigster Herrscher, sondern Franz-Peter Henkelmair aus Nürnberg,
wohlhabender Privatier und Weltenbummler. Was mich hierher treibt, ist die
Kunde, daß es hier einen 108jährigen Griechen, einen ehemaligen Fischer, geben
soll, mit Damen Demos Paraskevaides, der — so sagt Alfredo, der Klügere meiner
beiden Genuesen — den englischen Freibeuter und Seeräuber Captain James Coburn
Murdock noch gekannt haben soll. Wie jedermann wisse: Murdock verstarb 1832,
also im Todesjahr Goethes, weil er, Murdock, von einer Kanonenkugel zerfetzt
wurde. Es war die einzige von einem türkischen Hafengeschütz abgefeuerte
Kanonenkugel dieses Tages. Daß sie Murdock tötete, muß man als Vorsehung
nehmen. Beim anschließenden Brand seines Schiffes bissen Mann und Maus
sozusagen ins Seegras. Keiner blieb übrig, und das Schiff — ein schwarzer
Schnellsegler — versank als Feuerball in den Fluten. Damit ging auch unter das
Geheimnis um Murdocks Schatz. Denn dieser finstere Wüstling hatte 23 Jahre lang
die Hafenstädte des östlichen Mittelmeeres heimgesucht. Auch Istanbul wurde
zweimal von ihm überfallen. Immer gab es Gemetzel, und immer war die Beute
groß. Lange hielt sich das Gerücht, die Piraten versteckten sich auf einer
kleinen Insel in der Ägäis. Ich halte das für wahr. Und irgendwo dort sollen
sich auch jene Schätze befinden, die sie auf ihren Raubzügen erbeuteten.“
    Tim hielt inne und sah seine Freunde
an.
    „Irre!“ Gabys Blauaugen leuchteten.
    Klößchen hatte eine Tafel Schokolade
hervorgeholt und kaute in hastiger Aufregung.
    Karl hatte die Brauen auf die Stirn
hochgeschoben. Offensichtlich war er fasziniert von Henkelmairs Text.
    „Hört sich nicht übel an“, sagte Tim.
„Aber das besagt gar nichts. Jeder Scherzbold kann das abgefaßt und in die
Truhe gelegt haben.“
    „Lies weiter!“ sagte Gaby.
    „14. Mai 1909“, fuhr Tim fort. „Gestern
kam es mit Demos, dem Greis, zu einer Unterredung. Seine Rüstigkeit macht
staunen. Er bewegt sich flink, speiset mit gutem Appetit und blickt scharfäugig
in das grelle Licht dieser gesegneten Insel. Nur die Taubheit macht ihm zu
schaffen. Unser Gespräch war mehr ein Gebrüll. Aber nur zwecks der
Verständigung, nicht wegen Feindseligkeit. Die Haut ist dem Greis ziemlich weit
geworden, deshalb sie ihn umschlottert. Lange, denke ich, macht er’s nicht
mehr. Sein Wesen ist sehr einnehmend — im wirtschaftlichen Sinne. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher