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Herr der Schlangeninsel

Herr der Schlangeninsel

Titel: Herr der Schlangeninsel
Autoren: Stefan Wolf
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war.
    Er trat vor die Scheibe, drehte sich um
und wandte dem Laden den Rücken zu.
    „Sator arepo tennet opera rotas“, sagte
Tim den alten Zauberspruch auf, mit dem man im Mittelalter versucht hatte,
Seuchen und Feuersbrunst zu bannen. Vielleicht halfen diese Worte des
sogenannten magischen Quadrats auch gegen Karins Hexerei.
    Tim ging in den Laden zurück.
    Aller Augen waren auf Karin gerichtet.
    Sie lächelte verkrampft.
    „Nun?“ fragte Tim.
    „Ich habe nicht alles verstanden. Aber
es war die erste Strophe vom Deutschlandlied.“
    Tim nickte zufrieden. „Dachte ich’s
mir. Diesmal hast du nichts, aber auch gar nichts mitbekommen, weil ich dir den
Rücken zeigte. Also mußtest du raten. Peng — daneben. Ich habe einen
Zauberspruch aufgesagt — und ich weiß jetzt, daß die Lauscherei nichts mit
deinen Ohren zu tun hat. Du liest von den Lippen. Wie die Taubstummen.“
    „Uff!“ rief Klößchen.
    „Wäre scharf“, meinte Gaby und sah
Karin fragend an.
    Die Zwölfjährige nickte. „Ja, ich kann
Lippenlesen.“

    „Wo hast du das gelernt?“ fragte Tim.
    „Überhaupt nicht. Ich kann das einfach.
Ist mir offenbar angeboren. Ich war selbst ganz verblüfft. Entdeckt habe ich
das durch Zufall, etwa vor drei Jahren. Da fiel nämlich bei unserem Fernsehgerät
der Ton aus. Die Schauspieler hatten gerade eine Menge zu reden. Man sah nur
die Köpfe. Es war ein deutscher Film. Die Lippenbewegungen stimmten also mit
dem Text überein — was ja nicht der Fall ist bei synchronisierten (übersetzt
und von anderen Stimmen möglichst gleichlaufend gesprochen) Filmen aus dem
Ausland. Ich habe nur auf die Lippen geachtet und alles verstanden. Das habe
ich dann wiederholt, nämlich immer den Ton abgeschaltet und das Lippenlesen
trainiert. Außerdem beobachte ich die Leute, wenn sie sich unterhalten — außer
Hörweite. Im Café, auf der Straße, in der U-Bahn, überall. Manchmal postiere
ich mich auch an Telefonzellen und lese ab, was die Typen ins Rohr blasen. Ist
irrsinnig komisch.“
    „Enorm!“ nickte Tim. „Respekt vor dem
Talent. Aber das ist kein Grund, uns zu verarschen. Bei dir muß man wirklich
mit jeder Hinterlist rechnen. Deshalb bin ich mißtrauisch wie ein alter
Staatsanwalt — was den Schatzplan betrifft. Was ist nun damit?“

4. Antonia, Braut des Meisterdiebes
     
    Als das Telefon klingelte, legte
Antonia Vasilopoulos den Kamm weg, mit dem sie ihr schönes langes Haar
gescheitelt hatte: in der Mitte über der gutgeformten Stirn.
    Die junge Griechin verließ das kleine
Badezimmer, in dem Wäsche zum Trocknen auf der Leine hing und mindestens 50
Tuben und Döschen rumstanden mit Schönheits- und Pflegemitteln. Der Spiegel
über dem Waschbecken war besprenkelt mit Klecksen schäumender Zahncreme.
Antonia hatte die Angewohnheit, sich bei der Zahnpflege im Spiegel zu
bewundern: ihre schwarzen Augen, die griechische Nase und den vollen roten
Mund.
    Unter dem Waschbecken waren vier
Scheuereimer aufgebaut. In einem lagen schmutzige Strümpfe, im zweiten
verfaultes, ungewaschenes Obst, der dritte wurde benutzt als Abfallbehälter,
der vierte war unbenutzt, nämlich erst fünf Wochen alt. Genauso alt wie der
Wischlappen, der darin lag — ebenfalls unbenutzt.
    Antonia war zwar hinreißend hübsch,
aber nicht übermäßig ordentlich. Sie hielt Aufräumen für Zeitverschwendung.
    So sah auch der Rest der
Ein-Zimmer-Wohnung aus.
    Doch Antonia, die im vorigen Monat 23
geworden war, fand das Telefon sofort. Es versteckte sich unter einem Stapel
alter Zeitungen.
    „Ja, bitte?“ fragte sie in den Hörer.
    „Liebling“, kam Nick Klaudonias Stimme
von weither, „mein zuckersüßer Liebling. Ich bin’s, dein Nick.“
    „Nick!“ rief sie freudig. „Von wo rufst
du an?“
    „Aus Amsterdam, meine blütenzarte
Schöne. Ja, ich war vorige Woche noch in London. Doch dort hätten mich die
Bullen beinahe erwischt. Jetzt bin ich hier, aber nachher steige ich in den
Express-Zug. Heute nacht, ich weiß noch nicht genau wann, bin ich dann bei
dir.“
    „So eine Freude. Hast du ordentlich
abgesahnt?“
    „Äh, teils, teils. Geld leider gar
nicht — keinen Gulden. Bin sogar ziemlich abgebrannt. Trotzdem schwimme ich auf
einer Woge des Erfolges.“
    „Ach, wirklich? Kein Geld, aber
trotzdem Erfolg. Wie paßt das zusammen?“
    „Mir ist etwas in die Hände gefallen.“
    „Etwas Wertvolles?“
    „Unermeßlich wertvoll.“
    „Wunderbar. Wo willst du’s verkaufen?“
    „Man kann es nicht verkaufen, Liebling.
Kein
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