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Herr der Moore

Herr der Moore

Titel: Herr der Moore
Autoren: Kealan Patrick Burke
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Zivilisation. Zweimal London und zurück in drei Tagen. Alle Pein, die zwölfhundert Meilen anrichten konnten, auf ein Quadratzoll Wirbelsäule oberhalb meines Gürtels verdichtet, und zwar ebenfalls hoch zwei. Einmal zum Golden Square, um dort sechs frei improvisierte Songs für Tachyon Webs Live and Unplugged Session on Virgin 1215 zu spielen – weshalb eine Metal-Band mit einem Jazzpianisten anbandelte, wollte ich gar nicht genau wissen –, und dann zurück in die Charlotte Street zum Vorspielen beim Bandcasting für ein Talkshowformat, wie die Macher von Kanal 4 sie unentwegt aufkochten, seit The Last Resort den Bach hinuntergegangen war. Abgerundet hatte ich diesen Marathon, indem ich bei einer Band namens Poetic Justice für einen Jazzclub-Gig eingesprungen war, nur um mir hinterher noch die Nacht beim Pokern mit den Jungs um die Ohren zu hauen.
    Dennoch und um ein Klischee zu missbrauchen: Meine Aufgabe war es nicht, das Weshalb zu eruieren, sondern die Kohle einzustecken und mich meinem kleinen Leben zu widmen. Wer mich fürs Spielen bezahlte, durfte sich meiner Dienste sicher sein. Ich stand dazu, mich mit der Mindestbegabung, die Gott mir gegeben hat, zu prostituieren.
    Beim zweiten Mal nahm ich die grüne Ampel.
    Ich blinkte links und bog in die Old Durham Road ein.
    Ich hasste Städte. Seit jeher.
    Gateshead bei Nacht ist ein sterbendes Tier. Die Straßen waren wie leer gefegt. Die Kinderbanden lagen längst daheim im Bett, während das ältere zwielichtige Gesindel aus seinen Räuberhöhlen kroch und sich der heiklen Verlockung unbeaufsichtigter Autoradios hingab. Versoffene Obdachlose – Männer wie Frauen – schlüpften unter Einkaufswagen und Parkbänke, nicht ohne ihre Flaschen und den chronischen Mundgeruch mitzunehmen. Frauen trauten sich nur paarweise vor die Tür, weil eine von drei Straßenlaternen ausgefallen war. In jeder Gasse gab es verbretterte Fenster, und auf der Lover’s Lane stand mittlerweile eine Tankstelle, womit die Wirtschaft einen weiteren Markstein meiner Jugend zertrümmert hat. Zwischen die Bögen der Eisenbahnbrücke zwängte sich nun ein halbseidener Werkstattbetrieb, dessen Container voller Schrott sich über genau die Straße ergoss, auf die anständige Kids – ich war eines davon – einmal augenzwinkernd zurückblicken würden: »Klar, das war damals so, aber ich bin längst darüber hinweg.«
    Streunende Katzen und Hunde, unter deren schlaffer Haut spitz die Knochen hervorragten, durchstöberten die Mülleimer nach irgendetwas Essbarem. Deren Inhalt prägte schon immer das gängige Stadtbild noch stärker als der Verkehr, zumal die Autos dem Dreck optisch ernsthaft Konkurrenz machen.
    Der Ort stank nach Missstand, Schmutz und Zerfall, doch ich habe gelernt, ihn als mein Zuhause zu bezeichnen.

    Die Straße wand sich ins Labyrinth der Stadt. Im Vergleich zu dem, was Daedalus für Minos gebaut hat, ist es nichts; die Straße schlängelt sich vom Tyne-Ufer meilenweit an roten Backsteinen und Betonbunkern vorbei hinauf in die Gegend um den Saltwell Park und schließlich heim.
    Ich meinte es ernst, als ich sagte, dass ich Städte hasse; es gibt nur wenig mehr, was mich zur Weißglut bringt. Ich verachte die Lügen, die mit zahlenmäßigen Superlativen und dicht gedrängten Leibern einhergehen. Mich widert an, dass sie mir und anderen von meinem Schlag die Unschuld genommen haben, indem sie uns im Gegenzug die Welt versprachen. Ich weiß, wie man sich als junger Mensch fühlt, wenn zarte, blauäugige Träume mit jedem Schritt zwischen Schuhsohlen und harten, kalten Pflastersteinen zerbröckeln. Umgeben von Leuten, die gut lachen hatten, weil sie nicht allein waren, zog ich als Jugendlicher allein umher und überlebte. Vielen gelang das nicht. Und nur wenigen würde es noch gelingen.
    Die Songs wechselten. Ich hatte aufgehört, darauf zu achten. Lärm war Lärm. Ich dachte über Aimee nach und was sie im Heim wohl heute wieder erlebt hatte. Das Arnessen Refugium nahm unter anderem misshandelte Kinder auf. Sie wusste, was ich darüber dachte: Aimee war nicht abgebrüht genug, um mit den Verbrechen dieser Bastarde fertig zu werden. Ich wollte für sie da sein, wenn es hart auf hart kam, aber schon an ihrem ersten Arbeitstag dort hatte ich mir geschworen, mir jedes »Ich hab dich gewarnt« zu verkneifen.
    Vermutlich lag es daran, dass mir keine anderen Fahrzeuge begegneten, vielleicht auch an der schönen Regelmäßigkeit der Kurven und Abzweigungen, während sich die
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