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Herbst

Herbst

Titel: Herbst
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Geschehen, ihre an allen Stellen spielende nirgends versagende Erfindung. Menschen kamen mir entgegen: ich erkannte sie, den und jenen, die mir an den gleichen Stellen, etwa der rue de Seine , seit soviel Jahren begegnet waren: sie hatten überstanden. Einer trug die gleiche Kravatte. Ich erkannte die Händler in den Geschäften, kaum gealtert –, die Zeitungsfrauen in den Kiosken, – ja, der Blinde auf dem Pont du Carrousel , um dessen Leben ich schon im Winter 1902 besorgt gewesen war –, stand, verregnet und grau, an seiner Stelle: ich kann Dir nicht sagen, wie mich in diesem Moment das Glück der Heilung durchfluthete und überstieg, – da erst begriff ich, daß nichts verloren sei, und ein Fortsetzen möglich sein würde, trotz des eben noch so tief unterbrochenen Herzens. – Bücher waren noch die gleichen, in den Kästen der Bouquinisten , kleine Gegenstände erkannte ich, einzelne, in den Schaufenstern der Antiquare, und wo ein kleines, weniger bestaubtes Rund den Platz erkennen ließ, von dem eines weggenommen worden war, meinte ich zu errathen, was dort gestanden habe. Es war eine Rührung in meinem Herzen, die keiner Sentimente bedurfte. Eine Empfindung, die sich kaum antreten ließ, so vollkommen war sie in sich, so un
berührbar, aber man stand fortwährend am Eingang dieses Vorhimmels, der von ihr heil erfüllt war, – es war das maltesche Paris in seiner ganzen Vollzähligkeit, und nun erst schien es mir völlig zu entgelten, daß ich es so tief erlitten und ertragen hatte, – nun trug es mich, ich machte kaum die Bewegungen eines Schwimmers, das Element trug und ersparte meiner Hingegebenheit alle Ausgaben. – Du kannst Dir denken, daß ich niemanden zu sehen versuchte, auch Marthe nicht. Ich hatte keine Stelle meines Wesens frei, der Kontakt war so vollkommen, ich war überall angeschlossen, und so Unerhört war dieses Aufgenommensein vom ersten Augenblick an, daß es mich keine Überwindung gekostet hätte, nach einer Stunde wieder abzureisen: ich war schon erfüllt und der ganzen unerschöpflichen Versöhnung versichert. Für solche Verfassung waren sechs Tage ein unbegreiflicher Überfluß, dazu alle von der gleichen herbstlichen Herrlichkeit –, und, bei dem unsicheren Verhältnis, daß ich ohnehin zum Monde habe, könnte ich beschwören, er sei alle jene Nächte in seiner ganzen Fülle und Rundung in den Himmeln blieben, deren morgendliche Blässe ihn aufgelöst in den Glanz der Sonne hinübergab.
    Andreas-Salomé (31. 12. 1920), 422f.
    Für Lia Rosen
    Wer weiß denn was wir werden? Daß wir sind,
ist ein Gerücht an das wir wieder glauben
sooft wir fühlen: einmal war ich Kind.
Doch schon das Nächste kommt zu groß und rinnt
durch uns wie Wind im Herbst durch leere Lauben.
    Werke II , 209
    Das XII. Sonett an Orpheus
    Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
    drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
    jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
    liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.  
    Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
    wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
    Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
    Wehe –: abwesender Hammer holt aus!
    Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
    und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,
    das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.
    Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
    den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne
    will, seit sie lorbeern fühlt, daß du dich wandelst in Wind.
    Werke I , 758f.
    Â 
    Â 
    Fürchte dich nicht, sind die Astern auch alt,
streut der Sturm auch den welkenden Wald
in den Gleichmut des Sees, –
die Schönheit wächst aus der engen Gestalt;
sie wurde reif, und mit milder Gewalt
zerbricht sie das alte Gefäß.
    Sie kommt aus den Bäumen
in mich und in dich,

nicht um zu ruhn;
der Sommer ward ihr zu feierlich.
Aus vollen Früchten flüchtet sie sich
und steigt aus betäubenden Träumen
arm ins tägliche Tun.
    Werke I , 199
    Mir zur Feier
    (Motto)
    Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
der armen Stunden mit der Ewigkeit.
    Und das ist Leben. Bis
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