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Herbst

Herbst

Titel: Herbst
Autoren: Rainer Maria Rilke
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durch meine Hände gezogen, losgelassen längst, zerrissen seit wie lange! Es ist trist, bestürzend oft, fühlt sich kalt an und doch noch wärmer, als ich jetzt bin. Und, seltsam, heißt mehr: ›Ich‹, totes Ich, aber doch ›Ich‹,
als was die Briefe und Papiere des letzten pariser Aufenthalts mir zu bedeuten vermögen, wenn ich sie an mich halte. Die letzten Monate dort war ich schon der, der ich jetzt mehr und mehr geworden bin, ein mir Unbekannter, so unbekannt, daß ich mich manchmal, Momente lang, auf einen außer mir verlasse, der ›Ich‹ sein müßte, jenes andere, auch im Trüben irgendwie tiefer versicherte Ich, als das ich mich doch sonst zuverlässig erfuhr. Sie fragen, besorgt, drei, vier liebe Fragen: ich kann, ich darf nicht antworten. Ja, es ist unendlich schwer jetzt allein zu sein, und voraussichtlich ganz unnütz. Und doch, ich könnte mir keinen Menschen denken, mit dem ich mich in diesem Elend vertrüge, das auch der liebevollste Mitwisser mir noch evidenter machen würde, so wie ich einmal bin. Der andere nöthigt ja doch ein ›Ich‹ sich zu manifestieren –, durch Lust und Unlust oder was es auch sei. Ich bin wie eine leere Stelle, ich bin nicht, ich bin nicht einmal identisch mit meiner Noth, die ich nur bis zu einem gewissen Grad legitimieren kann. Da mir das Sprechen wegen der Mundverhältnisse (die Störungen und die gewisse Phobie sind immer die gleichen) mühsam ist, kann ich nichtmal laut Lesen, was mir sonst immer am Meisten zu mir hilft. Wie ich mit der Welt durch Aug und Geruch verkehre, so ist mein Selbstumgang zu einem großen Theil aufs Mich-Hören gestellt, diese Hemmung verwirrt mich unendlich, und mein Aufstehen jeden Morgen zu diesem Leben hat keinen Schwung. Genug, Liebe, lassen wir's. Ich steh in einem Gericht, die Richter berathen, das Urtheil steht noch aus.
    Wunderly II (10. 11. 1925) 1073f.
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    Ich kam – Sie errathen nicht, woher –, liebe Fürstin, – – ich kam aus Paris , wo ich, ebenso unvermuthet, sechs Tage zugebracht habe, unbeschreibliche Herbsttage, herrliche, – und es war (ich wohnte im alten, aber angenehm restaurierten Foyot , dem Luxembourg-Garten gegenüber) es war in einem alle Erwartung weit übertreffenden Maaße – mein Paris, das ehemalige, ich möchte sagen: ewige. Wer jetzt dort vorwiegend die rive droite besucht, auf persönliche Anknüpfungen, überhaupt auf das Gesellige und Gesprächliche angewiesen wäre, der würde sicher manche betrübliche und entstellende Veränderung zuzugeben haben. Ich aber habe das eigentümliche Glück, durch die Dinge zu leben, und soweit von denen und aus der intensiven Luft Einfluß zu mir herüberkam, wars der alte, unbeschreibliche, derselbe, dem ich seit fast zwanzig Jahren meine beste und entschlossenste Verfassung zu verdanken hatte. Ich kann nicht sagen (aber Sie werden's errathen!) mit welcher Bewegung ich diese Anschlüsse genoß, wie ich mich an hundert intime Bruchflächen anhielt, an die anzuheilen nun nur noch eine Sache der Hingebung war. Und an ihr, glauben Sie nur, hat es mir nicht gefehlt.
    Taxis II (19. 11. 1920), 624
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    Wie anders Paris! Denn, denk nur, Lou, ich war dort ! sechs Tage, Ende Oktober. Da war von keiner Wiederholung die Rede. Das Herz kam wohl auch dem Dortigen mit seinen Bruchstellen entgegen, aber die Anheilung vollzog sich in der ersten Stunde, und von da ab stürzte der Strom der hunderttausend Verwandlungen, neu und alt, unerhört und unbenennbar, durch den großen Kreislauf des endlich hergestellten Bewußtseins. Diese Tage! Es war Herbst, von jener pariser Pracht der Himmel und des Lichts, die diese Jahres
zeit der Natur steigert um die Jahreszeit einer längst Natur gewordenen Stadt: welche Überflüsse im Licht, welche Durchdringlichkeit der Dinge, die sich atmosphärisch durchschwingen ließen und diese Vibrierung weitergaben, welche Einheit von Gegenstand und Gegenüber, Nähe und Tiefe der Welt, – welches Neusein der Morgen, welches Alter der Wasser, welche Zärtlichkeit und Fülle des Winds, obwohl er durch Straßen kommt. Und diese Straßen: oh sie waren nicht weniger geworden, nichts war unterdrückt, vermindert, entstellt oder auswählig geordnet –: sie besaßen ihre alte Vollzähligkeit, ihr Strömen, ihr ununterbrochenes
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