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Herbst

Herbst

Titel: Herbst
Autoren: Rainer Maria Rilke
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ungangbar, – restons dehors . Mein ganzes Wissen beschränkt sich auf die höchst negative Einsicht, daß ich nicht weiter in München bleiben sollte, die Menschen stellen hier zu viel Ansprüche an einen, man soll fertig sein oder sich als solcher geben – et moi, si j'ai encore quelque avenir, ce sera en recommençant humblement que j'y parviendrai , denn was etwa in meinen Büchern für (bis zu einem gewissen Grade) fertig gelten darf, das ist auch abgethan für mich, seit fünf Jahren, seit sich der Malte Laurids hinter mir geschlossen hat, steh ich als ein Anfänger da, freilich, als einer, der nicht anfängt. Also anfangen –, aber wie?!
    Meine Situation ist gewissermaßen noch wahrer geworden, dadurch, daß ich, wie ich vorgestern erfuhr, alle meine
pariser Habe, also ungefähr alles, was ich besaß, wirklich verloren habe: der ganze Inhalt meiner Wohnung ist im April versteigert worden! Sie wissen, daß ich das nicht schwer nehme, längst war ich geneigt, alles, was sich seit den zwölf Jahren in Paris um mich angesetzt hatte, als Nachlaß des M. L. Brigge anzusehen, und vielleicht ist mit allen diesen mitwissenden Dingen und Büchern und den paar Erbstücken, die Obsession der Gestalt von mir genommen, von der endgültig abzusehen, ich doch reinlich entschlossen war. Und doch, liebe Freundin, Ihnen darf ichs gestehen, geh ich seit jener Nachricht aus Paris in einem wunderlichen Gefühle herum, etwa wie einer, der einen Sturz gethan hat, schmerzlos aufgestanden ist und doch irgendwie den Verdacht nicht los wird, es könne plötzlich in seinen Eingeweiden ein nachträglicher Schmerz ausbrechen und ihn zum Schreien bringen. Im Ganzen hatte ich längst alles aufgegeben und mich geübt, meinen Verzicht an dem Bewußtsein der paar Gegenstände zu erproben, die mir am fühlbarsten waren –, es ging; jetzt aber, merke ich, sie waren immerhin noch da; seit ich weiß, daß alles fort ist, rührt sich eine seltsame Furcht in mir, als wäre es denkbar, plötzlich von der Erinnerung an einen mitverlorenen Gegenstand erfaßt zu werden, der völlig unentbehrlich ist, ein Blättchen Papier vielleicht, ein Bild, ein Brief in einem der hundert Briefpakete, was weiß ich –, als könne etwas unscheinbar Liebes anhanden gekommen sein, das mit der Mitte des Lebens durch einen leichten feinen Faden verbunden war, der nun zerrissen ist …
    Taxis I (6. 9. 1915), 436-439
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    O ich möchte meine Stimme heben
aus der Welt, in der sie wirr verweht,
an Verlornes bindet sich mein Leben
und ich weiß, daß meine Zeit vergeht.
    Aufgerichtet aus dem Ungewissen
fühl ich meinen letzten Richter nahn;
wehe, meine Hand wird ausgerissen,
denn sie lebte und hat nichts getan.
    Und ich bin schon jetzt wie ausgestreute
welke Blätter, die sich raschelnd rühren;
über meine Seele gehn die Leute
und mich treibt der Wind an ihre Türen.
    Gott, ich hab es dir ja doch gesagt
Daß ich nicht für deine Tage tauge
weißt du noch es hat mein Kinderauge
schon ganz frühe zu dir aufgeklagt.
    Warum ließest du mich dennoch leben,
warum geh ich immer noch, wohin?
Hast du mir noch eine Pflicht zu geben, –
So befiehl mir eh ich müde bin.
    Wenn du willst, so werd ich noch einmal
in die Rüstung steigen, deren Stahl
fast noch neu ist, ohne Riß und Sprung …
    Werke III , 768f.
    Die Brandstätte
    Gemieden von dem Frühherbstmorgen, der
mißtrauisch war, lag hinter den versengten
Hauslinden, die das Heidehaus beengten,
ein Neues, Leeres. Eine Stelle mehr,
    auf welcher Kinder, von Gott weiß woher,
einander zuschrien und nach Fetzen haschten.
Doch alle wurden stille, sooft er,
der Sohn von hier, aus heißen, halbveraschten
    Gebälken Kessel und verbogne Tröge
an einem langen Gabelaste zog, –
um dann mit einem Blick als ob er löge
die andern anzusehn, die er bewog
    zu glauben, was an dieser Stelle stand.
Denn seit es nicht mehr war, schien es ihm so
seltsam: phantastischer als Pharao.
Und er war anders. Wie aus fernem Land.
    Werke I , 592f.
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    Ich widme jetzt ab und zu, angethan wie ein Taucher, einen Tag dem Ordnen der aus Paris, von vor 1914, stammenden Papiere. »Mémoires de ma vie morte«. Da kommt manches Merkwürdige an den Tag, manches, was mein Gedächtnis vor mir bloßstellt. Wie viel Menschen, wie viel Lebensfäden, einmal
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