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Henningstadt

Henningstadt

Titel: Henningstadt
Autoren: Marcus Brühl
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heller zu sein als auf dem Hinweg. Die Bäume haben helleres Laub, die Steine sind grüner und die Gefieder der Vögel, die er dann und wann weghuschen sieht, sind bunter als auf dem Hinweg. Henning ist erleichtert und fühlt sich als Herr der Lage. Auf einmal weiß er gar nicht mehr, was er hatte und warum er so traurig und so un ruhig war. Es wird sich alles finden, denkt er. Es hat ihm gut getan, zu der Quelle zu laufen und den lieben Gott einen alten Mann mit Bart sein zu lassen.
    Henning kommt wieder auf die Straße. Er überlegt, ob er Isabell wie verabredet anrufen soll.
    Er zählt seine Schritte und bei hundertfünfundsiebzig kriegt er einen Schrecken, bleibt kurz stehen. Zu jedem Schritt bis nach Hause denkt er diese Zahl. Sie ist zu lang, um sie mit jedem Schritt zu denken. Er zerlegt sie, so dass sie unkenntlich wird: eins, sieben, fünf.
    Henning öffnet die Haustür, geht drei Dutzend mal eins-sieben-fünf Stufen hoch, öffnet die Wohnungstür. Der vertraute Geruch schlägt ihm entgegen. Wenn seine Eltern da sind, ist es ganz normal, dass die Wohnung nach ihnen riecht, aber jetzt ekelt ihn der Geruch an.
    Weil alle Zimmertüren geschlossen sind, liegt der Flur ihm Dunkeln. Nur durch die Wohnungstür fällt ein biss chen Licht. Henning bleibt auf der Schwelle stehen und stemmt sich mit der rechten Hand gegen den Türrahmen.
    Er atmet den Geruch und versucht, sich daran zu ge wöhnen. Er gefällt ihm einfach nicht. Hauptsächlich riecht es hier nach seinem Vater. Wenn man das sagen kann. Vielleicht riecht der Vater auch nach der Wohnung.
    Henning erinnert sich an die Kissenschlachten, die er als kleiner Junge mit seinem Vater veranstaltet hat. Sein Vater hat ihn durchgekitzelt, und Henning ist von der einen Kante des Ehebettes in die andere geflohen und hat sich gewehrt, aber nicht so sehr, dass Arnold denken konn te, Henning hat keine Lust mehr. Das hat Henning großen Spaß gemacht.
    Vormittags fanden diese Kissenschlachten statt, wenn Henning früh aufgestanden war und dann irgendwann endlich seine Eltern wecken gehen durfte. Ab zehn Uhr war das erlaubt. Wenn Henning nach einigen Schlacht gän gen erschöpft war, ließ er sich zum Zeichen der Kapi tu lation auf den Bauch plumpsen und vergrub seinen Kopf im Kissen seines Vaters. Sog den Geruch ein, den Geruch, den sein Vater am Kopf und in den Haaren hatte. Henning liebte diesen Geruch, er war das Zeichen für Ge borgenheit, Sicherheit und liebe. Henning verzieht den Mund. Henning schämt sich. Er schämt sich, weil es ihm jetzt verboten vorkommt, den Geruch des Vaters zu lie ben und deswegen Kissenschlachten zu initiieren. Er schämt sich, weil der Geruch so unangenehm ist.
    Er geht schnell ins Wohnzimmer und macht das Fens ter auf. Henning geht in den Flur zurück und öffnet die Zimmertüren. Aus dem Spiegelschrank holt er sein Par füm, das leckere 1661, und versprüht es hektisch in der Wohnung. Vor der Schlafzimmertür macht er halt. Das Schlafzimmer ist das Schlafzimmer der Eltern, da hat er nichts verloren, auch wenn es kein ausgesprochenes Ver bot gibt. Er öffnet sie dann doch, sprüht ein paar Mal kräf tig rein, macht sie zu und besprüht die Türzarge reich lich, um eine Schwelle zu bilden, über die der Ge ruch seiner Eltern und seines Vaters nicht in die restliche Wohnung dringen kann.
    Er geht in sein Zimmer, holt einen Stuhl ans Wohn zimmerfenster und macht es auf, weil der penetrante Geruch von 1661 nicht auszuhalten ist. Er sieht rüber zum Tisch, auf dem der Parfümflakon steht. Die halbe Flasche ist versprüht.
    Henning hat alle Zeit der Welt. Seine Eltern sind nicht da: Er kann aufbleiben so lange er will, ohne sich dumme Bemerkungen anhören zu müssen. Er kann schlafen, so lange er will. Er kann essen, was und wann er will. Zur Schule muss er im Prinzip auch nicht. Seine Eltern wer den ihm schon Entschuldigungen schreiben. – Er könnte sich einfach hinsetzen und das Leben genießen.
    Henning ist unruhig. Er hat Herzrasen, wenn er daran denkt, dass seine Eltern zurückkommen werden und er dann wieder mit ihnen eingesperrt ist. Er hat kein schlech tes Verhältnis zu ihnen, ganz und gar nicht, im Gegenteil, eher ein freundschaftliches, soweit das möglich ist.
    Aber er hat einfach keine Lust mehr, Eltern zu haben, die seinen Tagesrhythmus bestimmen, in deren Wohnung er wohnen muss und deren Geruch in allen Fasern seiner Umgebung nistet. Henning ist der Überzeugung, wie schon einmal mit vierzehn, dass er nun endlich erwach sen ist,
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