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Helix

Helix

Titel: Helix
Autoren: Dan Simmons
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Klasse aufgab und den Job an der Highschool angenommen habe. Die meisten anderen Mädchen haben geweint. Kelly Dahl war damals elf. Sie hat auch kaum Emotionen gezeigt, als sie später im Englischunterricht doch noch einmal in meine Klasse kam. Wie alt war sie da? Siebzehn.
    Und jetzt versuchte sie, mich zu töten. Auch da war nicht viel Platz für sentimentale Gefühle.
    Am Rand der Rinne verließ ich den Wald und folgte den menschlichen Fußabdrücken, die auf den von der Ebbe freigelegten Sandbänken im Schlamm zu sehen waren. Ob das Binnenmeer nun aus dem Jura oder der Kreidezeit stammte – der Mensch, der vor mir über die Sandbänke gelaufen war, hatte Sportschuhe getragen. Laufschuhe, nach den Sohlen zu urteilen. Von den Gezeiten abhängige Sandbänke? Doch, das war möglich – das Meer von Kansas war groß genug, um Gezeiten zu haben.
    Das Ruderboot war bis auf zwei ordentlich verstaute Riemen leer. Ich sah mich um, nahm das Gewehr heraus, um die Hügel abzusuchen, warf dann den Rucksack ins Boot, legte mir das Gewehr über den Schoß, stieß mich durch die niedrigen Wellen ab und ruderte zur gelben Boje hinaus.
    Ich rechnete mit einem Gewehrschuss, nahm aber an, dass ich ihn nicht hören würde. Trotz der gescheiterten Anschläge vor einigen Tagen war Kelly Dahl offensichtlich eine gute Schützin. Wenn sie entschlossen war, mich zu töten, und ein gutes Schussfeld hatte wie hier – sie konnte von jeder Stelle der Flatirons aus schießen –, dann war ich schon beim ersten Versuch mit ziemlicher Sicherheit tot. Meine einzige Chance bestand darin, dass es kein tödlicher Schuss werden und ich noch fähig sein würde, die Remington zu bedienen.
    Trotz der kühlen Herbstluft war mein Hemd von der Anstrengung durchweicht. Das Gewehr lag hinter mir auf der Ruderbank, und ich musste daran denken, wie verwundbar ich hier auf diesem kreidezeitlichen Meer war und wie dumm ich mich verhielt. Mein Lachen klang eher nach einem Grunzen.
    Tu, was du nicht lassen kannst, Mädchen. Hinter den Felsen auf dem Flagstaff Mountain blitzte in der Sonne irgendetwas auf. Ein Fernglas? Die Windschutzscheibe meines Jeeps? Ich ruderte gleichmäßig weiter. Tu, was du nicht lassen kannst. Schlimmer als das, was ich mir selbst antun wollte, kann es nicht sein.
    Die gelbe »Boje« war ein Plastikkanister, der Bleichmittel enthalten hatte. Eine Schnur war daran gebunden. Ich zog sie hoch. Die Weinflasche am anderen Ende war mit Steinen beschwert und mit einem Korken verschlossen. Drinnen fand ich einen Zettel.
    PENG, stand dort. ERWISCHT.
     
    Noch am gleichen Tag, als ich beschlossen hatte, mich umzubringen, plante ich mein Vorhaben, traf die notwendigen Vorbereitungen und führte es auch aus. Warum noch länger warten?
    Die Ironie war, dass ich Selbstmord und Selbstmörder immer verabscheut habe. Papa Hemingway und seine Bundesgenossen, also die Leute, die sich eine Boss-Schrotflinte in den Mund stecken und abdrücken, sodass die Überreste am Fuß der Treppe liegen bleiben, wo die Ehefrau sie dann findet, und die Wände mit Schädelsplittern verklebt sind, die von einer Putzkolonne entfernt werden müssen … nun ja, ich finde das widerlich. Ich glaube, diese Leute lassen sich gehen. Ich war ein Versager, ein Trinker, eine Niete – aber ich habe es nie jemand anderem überlassen, meinen Dreck wegzuräumen. Nicht einmal in den schlimmsten Tagen meiner Zeit als Trinker.
    Natürlich ist es schwer, sich eine Art der Selbsttötung auszudenken, die kein Chaos hinterlässt. Es wäre nett gewesen, wie James Mason 1954 am Ende von Ein neuer Stern am Himmel einfach ins Meer zu marschieren, vorausgesetzt, eine starke Strömung hätte mich nach draußen gezogen oder die Haie hätten meine im Wasser verbliebenen Überreste vertilgt. Doch ich lebe in Colorado. In einem der kleinen Speicherseen hier in der Nähe zu ertrinken, ist bestenfalls erbärmlich.
    Alle häuslichen Mittel – Gas, Gift, Aufhängen, eine Überdosis Schlaftabletten, die Schrotflinte im Schrank – bürden jemandem das Hemingway-Problem auf. Außerdem hasse ich melodramatische Inszenierungen. Meiner Ansicht nach geht es, von mir selbst abgesehen, niemanden etwas an, wie oder warum ich abtrete. Meiner Exfrau wäre es natürlich völlig gleichgültig, und mein einziges Kind ist tot und kann sich nicht mehr schämen, aber es gibt immer noch ein paar Freunde aus der guten alten Zeit, die sich hintergangen fühlen könnten, wenn sie erfahren, dass ich Selbstmord begangen habe. So
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