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Helix

Helix

Titel: Helix
Autoren: Dan Simmons
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Steinbrech, Solifluktionsterrassen, Nelkenwurz und Riedgräser, Gelbbäuchiges Murmeltier, Permafrost, Nivationsnischen, Geißfuß, Chiming Beils und die Seggenart, die Menschen hasst …«
    Es ist durchaus möglich, dass dieser Seggenart eine gewisse symbolische Bedeutung zukommt.
    Ich sollte noch betonen, dass die Prinzipien von wabi und sabi in der Natur nirgendwo deutlicher zum Ausdruck kommen als im Krummholz oder »Eibenholz«, in den knorrigen und verdrehten kleinen Bäumen an der Baumgrenze, die gut tausend Jahre alt sein können; ebenso in den eiszeitlichen Moränen, den umgestürzten Bäumen, den mit Moos bewachsenen Felsen und im subglazialen Sand.
     
    Abschließend noch die Definitionen einiger Begriffe, die nützlich sein könnten:
    Chiaroscuro – die Benutzung und Verteilung von Licht und Schatten in einem Gemälde.
    Pentimento – das Auftauchen eines übermalten Motivs in einem Gemälde.
    Palimpsest – ein Pergament, von dem die Schrift ganz oder teilweise entfernt wurde, um Platz für einen anderen Text zu schaffen.
    Palinodie – ein Gedicht, in dem der Dichter etwas zurücknimmt, das er in einem früheren Gedicht gesagt hat.

1
CHIAROSCURO
     
    Als ich am Morgen im Camp aufwachte, musste ich feststellen, dass der Highway nach Boulder verschwunden war. Keine Kondensstreifen mehr am Himmel, die Blätter der Espen hatten sich, obwohl es angeblich ein Tag im Hochsommer war, golden verfärbt, und nachdem ich mit dem Jeep vier Meilen weit durch den Wald und über den felsigen Höhenzug bis zurück zu den Flatirons geholpert war, ließ mich der Anblick des Binnenmeeres auf der Stelle anhalten.
    »Verdammt«, murmelte ich. Ich stieg aus und lief zur Klippe.
    Wo die Vorberge und die Ebene hätten sein sollen, erstreckte sich jetzt bis zum Horizont und wohl noch darüber hinaus ein großes Meer. Träge Wellen leckten unten am Uferschlamm. Wo die eckigen Bauten des NCAR, des National Center for Atmospheric Research, unterhalb der Sandsteinflächen der Flatirons gestanden hatten, gab es jetzt nur noch mit Büschen besetzte Sümpfe und verschlammte Buchten. Von Boulder war nichts zu sehen. Weder die Bäume der Stadt noch deren niedrige Gebäude konnte man ausmachen. Der Highway 36 verlief nicht mehr wie früher schnurgerade über die Hügel nach Südosten in Richtung Denver. Weit und breit war keine Straße zu sehen. Die Hochhäuser von Denver waren verschwunden, ganz Denver war verschwunden. Nur das Binnenmeer erstreckte sich nach Osten, Norden und Süden, so weit mein Blick reichte. Die Farbe entsprach dem Graublau, das ich aus meiner Jugend vom Lake Michigan kannte. Die Wellen schwappten lustlos, es war die halbherzige Bewegung eines großen Sees, nicht die rauschende Brandung eines echten Ozeans.
    »Verdammt«, sagte ich noch einmal und zog die Remington heraus, die hinter dem Fahrersitz des Jeeps in einer Hülle steckte. Mit der zwanzigfachen Vergrößerung des Zielfernrohrs suchte ich die Rinnen ab, die zwischen den Flatirons zu den Sümpfen und zum Strand hinunterliefen. Es gab keine Straßen, keine Wege, nicht einmal Fährten von Tieren. Ich setzte den Fuß auf einen flachen Stein, stemmte den Arm aufs Knie und versuchte, den Bildausschnitt möglichst ruhig zu halten, während ich links und rechts den langen Streifen des dunklen Strandes absuchte.
    Fußabdrücke im Schlamm – die Spur eines Menschen führte von der Rinne direkt unter meinem Standort, der eines Tages Flagstaff Mountain heißen sollte, zu einem kleinen Ruderboot, das außer Reichweite der plätschernden Wellen auf den Sand gezogen worden war. Im Boot saß niemand, und vom Boot führten auch keine Spuren weg.
    Ein Farbfleck und eine Bewegung, ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt, erregten meine Aufmerksamkeit. Ich hob das Gewehr und versuchte, das Zielfernrohr auf den hüpfenden gelben Tupfer auszurichten. Da draußen, knapp außerhalb des Flachwassers, trieb ein Floß.
    Ich ließ die Remington sinken und trat einen Schritt näher an den Steilabfall. Mit dem Jeep wollte ich auf keinen Fall dort hinunter. Es hätte Stunden, ja Tage gedauert, einen Weg durch das dichte Unterholz und die Ponderosa- und Lodgepolekiefern zu hacken, die in der Rinne wuchsen. Und selbst dann musste ich noch die Winde benutzen, um den Jeep über Felsblöcke und beinahe senkrecht abfallende Stellen zu hieven. Es war die Mühe nicht wert, den Wagen mitzunehmen. Zu Fuß würde ich etwa eine Stunde brauchen, um nach unten zu gelangen.
    Aber wozu?, dachte ich.
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