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Heldenstellung

Heldenstellung

Titel: Heldenstellung
Autoren: Sebastian Glubrecht
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sieben hole ich Jessica vor der Agentur ab. Sie steigt ein und nennt mir eine Adresse. Zwanzig Minuten später halten wir vor einer imposanten Altbau-Wohnanlage. Jessica grüßt den Pförtner, er nickt ihr zu und öffnet die Schranke. Die Fassaden sind blitzsauber, die Fenster aus dunklem Holz, aber in keinem hängen Gardinen oder Kinderbasteleien. Der Komplex erinnert mich an eine verwaiste Luxussiedlung oder an eine vergessene Geldanlage orientalischer Scheichs.
    »Hier wohnt Adam?«, frage ich.
    »Wenn er mal da ist«, antwortet Jessica. »Eigentlich hat er kein richtiges Zuhause.«
    Wir fahren in eine Tiefgarage. Nachdem ich die Einkäufe ausgeladen habe, zückt Jessica einen Schlüssel, der zu einem Aufzug passt. Sie drückt die oberste Taste mit dem »P« wie Penthouse. Ich atme tief ein und aus. Hari hat mal gesagt, man soll Wut nicht herunterschlucken, sondern sie in gebündelte Energie umsetzen. Wahrscheinlich springe ich Adam also gleich mit gebündelter Energie an die Gurgel.
    Jetzt öffnet sich die Tür, und wir betreten den Flur einer Luxuswohnung. Zumindest hat sie das Potenzial, eine Luxuswohnung zu sein. Wären da nicht die leeren Flaschen, die Pizzakartons und die dreckige Wäsche. Auf dem Boden liegen Kinderbücher herum. Jessica hebt eines davon auf und legt es auf ein Regal.
    »Er hat gar keine Kinder«, sagt sie. »Ich dachte nur, die Bücher beruhigen ihn vielleicht etwas.«
    Ich spüre, wie mein Zorn langsam einer traurigen Vorahnung weicht. Jessica geht durch die Wohnung und hebt hier und da ein Stück Wäsche auf. Ich folge ihr.
    »Bring die Sachen in die Küche«, sagt sie und deutet mit der freien Hand um die Ecke.
    Die Küche sieht aus als wäre sie nie benutzt worden – abgesehen von den Tomatensoßeresten in einem Topf, der auf der Anrichte steht, dem offenen Kühlschrank und dem laufenden Wasserhahn.
    »Hier ist er«, höre ich Jessicas Stimme und folge ihr durch zwei weitere chaotische Zimmer. Okay, Zeit für die Wahrheit.
    »So, Adam, wir beide müssen jetzt mal was klären«, rufe ich wütend, als ich den Wohnraum betrete. Von dort aus hat man eine atemberaubende Sicht über Frankfurt. Aber es ist der zweite Blick, der mich fast umhaut. Auf einem Stuhl vor dem Fenster sitzt mein ehemaliger Kollege im Jogginganzug. Oder besser gesagt: das, was von Adam übrig ist. Als ich näher komme, sehe ich, dass er keine Socken trägt. Er ist käseweiß, hat tiefe dunkle Augenringe und starrt seine nackten Zehen an. Die letzten Reste meiner Wut verpuffen.
    »Adam«, sage ich laut, aber er reagiert nicht. Jetzt entdecke ich die Wärmflasche, die auf seinem Bauch liegt. Auf dem Boden steht ein voller Teller Nudelsuppe neben einem Scrabble-Spiel und Steinen. Jemand hat das Wort »langweilig« gelegt.
    »Das war ich«, sagt Jessica entschuldigend. »Adam wollte nicht mitspielen. Es ist ihm schon zu viel, aus dem Fenster zu schauen, glaube ich. Er sagt ja kein Wort.« Jessica nimmt einen Löffel Nudelsuppe und versucht, Adam zu füttern. Aber der starrt regungslos geradeaus.
    »Vor einer Woche hatte er einen Termin bei deinem Vater. Weil der noch telefoniert hat, habe ich Adam gebeten, kurz zu warten. Als ich ihn dann ins Büro holen wollte, ist er einfach nicht mehr aufgestanden. Ich habe bei der Garderobiere angerufen, weil die unsere Ersthelferin ist, und sie meinte, er müsse sofort in eine Klinik.«
    Jessica sieht mich traurig an: »Aber er sollte doch gerade zum Partner aufsteigen. Und seit du weg warst, ist er richtig aufgeblüht.«
    Jessica streichelt ihm über den Kopf wie einem Kind.
    »Jemand wie Adam darf keine Schwäche zeigen, sonst wird er ersetzt. Dein Vater hätte ihn rausgeworfen, wenn er davon erfahren hätte. Und außer dem Job hat er doch nichts.«
    Also haben Jessica und die Garderobenfrau ihn erst einmal in der Requisite untergebracht.
    »Das war kein Problem, er hat sich ja ganz ruhig verhalten. Gegen Mitternacht, als die meisten Kollegen gegangen waren, haben wir Adam dann nach Hause gebracht.« Jessica breitet hilflos die Arme aus.
    »Zuerst dachte ich, das wird schon wieder. Aber es wird leider nicht. Er ist wie ein Zombie.«
    Ich trete ganz dicht an Adam heran und schnippe direkt vor seinen Augen: keine Reaktion. Also klatsche ich in die Hände. Als ich gerade mit der Faust ausholen will, hält Jessica meinen Arm fest.
    »Wir müssen ihm helfen. Kennst du nicht irgendjemanden, der ihn wieder auf die Beine bringen kann?«
    Ja, zum Glück kenne ich tatsächlich
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