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Heinrich Mueller 01 - Salztraenen

Heinrich Mueller 01 - Salztraenen

Titel: Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
Autoren: Paul Lascaux
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verstummten die Gespräche. Die Frauen am Stammtisch waren inzwischen wohl zu Hause, um ihre Familien zu bekochen. Verlegen hoben die verbliebenen Männer ihre Gläser zum Mund, auch wenn sie bereits leer waren. Der Detektiv setzte sich an den Tisch in der entfernteren Ecke, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er wolle die Männer belauschen, obwohl in der ansonsten leeren Stube jedes Wort an jedem Ort zu hören war.
    Am Tisch neben Müller saß ein älterer Bauer in sich zusammengesunken, der einzige weitere Gast. Er wirkte ungepflegt in seinem dunkelbraunen, weitmaschigen Pullover, der selbst dann schmutzig aussah, wenn er frisch gewaschen war. Plötzlich richtete sich sein Oberkörper auf und der Alte sagte: »Ich erzähle euch jetzt die Schweizergeschichte, wie sie sich wirklich zugetragen hat.« Ohne auf eine Antwort oder auf Zustimmung zu warten, begann er: »Es war im Jahr des Herrn 1291 …“
    Der Wirt musste im Keller mit Müllers Weinbestellung beschäftigt gewesen sein, trat nun aber durch die Tür zur Küche in den Schankraum, sah den Bauern an und sagte: »Lass gut sein, Werner.“ Und zu Müller gewandt: »Er redet immer dasselbe, seit seine Frau tot ist.«
    »Seit bald zwei Jahren nun«, murmelte einer am Nebentisch, »und wenn es auf den Jahrestag zugeht, wird es besonders schlimm, dann will er gar nicht mehr aufhören.«
    »Früher, da war er Feierabendbauer, der Werner Ramseier«, erklärte nun die Bedienung, eine junge, schwer gebaute Frau, die den lokalen Dialekt sprach, »gearbeitet hat er auf der Station auf der anderen Talseite. Er war Bahnhofsvorstand und hat sich als Künstler betätigt.«
    »Kunst«, seufzte der Alte, nun plötzlich klar im Kopf, »Kunst, die hier keiner verstanden hat.«
    Am Nebentisch lachte man. »Kein Wunder, deine Einrichtung zur Ausrichtung nach Windrichtung, die hättest du eben erklären müssen.«
    »Da gibt es nichts zu erklären. Das war die Schweizer Fahne, nach der sich die Politiker ausrichten. Immer dorthin, von wo der Wind weht. Pack!« Nun schrie er beinahe durch den Raum, sodass ihn der Wirt aufforderte, nach Hause zu gehen, er habe für heute genug getrunken.
    Später am Abend verließ Müller nach dem ausgiebigen Essen das Wirtshaus für einen Spaziergang durch den menschenleeren Ort. Auf dem Dorfplatz blieb er vor einem Betonsockel stehen. Albert Bitzius (1787-1854), las er auf einer rostigen Plakette, genannt Jeremias Gottbelf, Pfarrer und Bauerndichter. Oben stand eine Büste, ein runder Kopf mit weichen Gesichtszügen. Das Gesicht umrahmt von Haaren und Kinnbart. Auf der kahlen Stirn sammelte sich der Vogeldreck.
    Eine Katze schrie in einem der umliegenden Gärten. Plötzlich hörte Müller hastige Schritte hinter sich, dann die Stimme von Werner Ramseier: »Aber den Schluss, Herr Doktor, den Schluss müssen Sie hören!«
    »Ich bin kein Doktor«, meinte Henry.
    »Das macht nichts. Sie haben Verbindungen zur Stadt. Vielleicht informieren Sie die Obrigkeit. Sie haben meine Frau ermordet!«
    »Wer?«, fragte der Detektiv.
    Der Alte schaute sich um, ob ihnen auch niemand zuhörte. »Sie haben es gemeinsam getan. Jeder wollte sie besitzen, das ganze Leben lang haben sie ihr nachgestellt. Sie war viel zu schön für dieses Schattental, eine Blüte in einer Welt, wo nur fettes Gras zählt.«

 
Mittwochabend, 20.9.2006
    Als der Detektiv von seinem kurzen Spaziergang zurückkam, war die Wirtschaft leer. Auch die Bedienung hatte gewechselt. Die Jugend vom Lande war ersetzt worden durch eine nervöse, schlanke Dunkelhaarige, die nicht recht in den Bären passte. Heinrich Müller konnte sich diesen Wandel nicht erklären. Dann verschwand die junge Dame durch die Küchentür.
    »Bären- Wirt, wieso sind alle so früh weggegangen? Es ist doch Mittwoch, da sitzen sie sonst länger.«
    Die Frau von Mitte 20, die diese Frage stellte und in Richtung der leeren Gaststube zeigte, erledigte den Service meist am Abend, seit die Wirtin erkrankt war. Nicht zu r Zufriedenheit des Patrons. Aber was konnte er tun? Sie kostete ihn nicht viel, da sie behauptete, irgendein Praktikum machen zu müssen, das sie in diese Gegend bringe. Ethnologie. Völkerkunde. Er konnte sich nichts darunter vorstellen.
    »Sie haben behauptet, sie seien müde vom Herbstmarkt in Langnau, der heute stattgefunden hat, die Familie warte.«
    »Du glaubst doch diese Ausrede nicht! Die sind doch rüber in den Löwen. Soll ich mal nachsehen?«
    »Nein, bleib hier. In den Löwen geht doch keiner
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