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Heinrich Mueller 01 - Salztraenen

Heinrich Mueller 01 - Salztraenen

Titel: Heinrich Mueller 01 - Salztraenen
Autoren: Paul Lascaux
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Langnau Richtung Entlebuch auf der rechten Seite nach Süden, entlang des Wildgrats zuerst nach hinten ins Tal, das immer enger wird. Die Bergflanken berühren auf beiden Seiten beinahe das Asphaltband, das parallel zum Bach verläuft. Dort, wo die Straße einknickt, wo es nicht mehr anders geht als von der Fläche den Berg hoch, kurz nach der Einmündung der Schatten in die Kurzen, gibt es eine Abzweigung in den Schattgraben, von wo der Weg nur noch zu Fuß weiterführt auf die Scheidegg.
    Zuvorderst in diesem engen Tal findet man den Weiler Schatthalb mit seiner kleinen Käserei, die in den letzten Jahren einen so wunderbaren Emmentaler produziert hat, und drei oder vier Bauernhöfe. Aus dem größeren Haupttal wird die Milch hierher gebracht, auch hinunter von der Wildenalp, wo die Kühe gesommert werden. Dort hinauf führt die schmale, kurvenreiche Straße weiter die Flanke des Wildgrats entlang, immer steiler, bis der Wagen knarzt, der Tacho kaum mehr schlappe 40 zeigt und die deutschen Touristinnen, die man im Bären aufgelesen hat, mit belegter Stimme flüstern: »Geht es nicht etwas langsamer? Wir haben Familie und Kinder zu Hause.« Zuoberst erreicht man die Alphütte, der das Restaurant Sternen angegliedert ist, ein beliebtes Ausflugsziel, »nah am Himmel‹, wie die Wirtsleute, Fritz und Marie Bär, zu sagen pflegen.
    Drunten im Tal liegt Kurzenau mit seinen gut 200 Einwohnern, drei Wirtschaften (Bären, Löwen, Hirschen, die unheilige gastwirtschaftliche Trinität im Emmental), einer Post, vor der die unregelmäßigen Postautokurse halten und die bald geschlossen werden soll, einer reformierten Kirche aus dem 19. Jahrhundert, einem Kolonialwarenladen (geöffnet zweimal die Woche, mittwochs und samstags), einem Lokalmuseum namens »Heimatstube« (Besuche nach vorheriger telefonischer Anmeldung) und einem leer stehenden Schulhaus, vor dem die Schüler auf den Bus warten, der sie in den Hauptort bringen soll.
    Im Schachen wohnen noch einmal 100 Menschen, dort, wo das Geschiebe der Kurzen vor ihrer Mündung in die Ilfis Überschwemmungsboden bereitstellt. Dort steht die Mehrzweckhalle, die einmal im Jahr für die Gemeindeversammlung und nach Bedarf für das Treffen der Käsereigenossenschaft genutzt wird, während sie sonst den drei Dorfvereinen zur Verfügung steht: dem Schützenverein, der Damenriege und dem Jungzüchterverband Kurzengraben. Runde Geburtstage, Hochzeiten und Taufessen finden in einer der drei Wirtschaften statt, wo auch die Politik am Stammtisch ausgemacht wird, und zwar Dorf-, Tal-, Kantons-, Landes-, Europa-und Weltpolitik.
    Drei Besonderheiten im Tal der Schatten sind noch zu erwähnen: Erstens der Sandstein-Gewölbekeller, den die Armee in den Dreißigerjahren aus der Fluh unterhalb der Scheidegg herausgebrochen hat, um dort Munition zu lagern, und der heute dem Käser zur Affinage seiner Emmentaler dient. Zweitens eine spektakuläre, steile Schlucht, die die Schatten aus derselben Fluh am Ende des Tales gegraben hat und die heute bis auf halbe Höhe begehbar ist. Dann – hinauf zur Scheidegg – folgen Treppen mit rostigen Stahlseilen und eine Leiter, der nicht mehr zu trauen ist. Und drittens befindet sich oberhalb der Scheidegg die Nassalp, eine voralpine Moorlandschaft, die für die Kühe nur schwer begehbar ist, dafür dank der köstlichen Kräuter eine ausgezeichnete Milch liefert.
    In diese Richtung fuhr Heinrich Müller. Er hatte sich mehr Zeit gelassen als geplant, da der Weg ja nicht so weit war. So traf er sich mit all den anderen, die eben Feierabend gemacht hatten, an der Stadtgrenze von Bern und reihte sich ein in die Kolonne Richtung Langnau, die sich vor der Einfahrt ins Tal zum gefürchteten Kurzschachen-Stau verdichtete. Gut, Stau ist ein bisschen viel gesagt bei knapp 300 Einwohnern. Aber da die Autodichte 120 Prozent betrug – nur knapp übertroffen von der lokalen Handydichte – gab es zur zweimal täglichen Stoßzeit kaum ein Durchkommen in den Kurzgraben, zumal gleichzeitig auch noch die diversen Milchfuhrwerke unterwegs waren.
    Trotz des Todesfalls vom Montag war es ein normaler, ruhiger Abend: Ein paar Bauern beluden ihre vierradangetriebenen Subarus und Toyotas, Leute, die von außerhalb des Tals zurückkamen, hupten sich ihren Weg frei, der Schulbus spuckte ein paar Halbwüchsige aus und in dem an Langnauer – also sozusagen bereits fremde Fötzel – vermieteten Stöckli spielten ein paar maskierte Kinder im Feng-Shui-Garten ›Räuber und Gendarm‹.
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