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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52
Autoren: Selim Oezdogan
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Ergün still, aber nachts, Gott sei Dank nachts, wenn Fuat arbeitet, weint der Kleine. Er wacht auf und gibt zunächst nur Geräusche von sich, die auch Gül wecken. Sobald Ergün dann Güls Gesicht sieht, eine Fremde und nicht, wie er erwartet hat, seine Mutter, fängt er an zu heulen und lässt sich kaum mehr beruhigen.
    Was vielleicht auch daran liegt, dass Gül bald nach ihm anfängt zu weinen.
    – Siehst du, sagt sie zu dem Jungen, so ist das Leben, wir können nichts daran ändern. Meine Kinder sind auch nicht bei mir, und ich will das auch nicht.
    Sie umarmt den Kleinen, drückt ihn an ihre Brust, gemeinsam weinen sie sich durch einen Teil der Nacht, bis Ergün erschöpft einschläft.
    – So ist das Leben, sagt Gül, bald werde ich noch ein Kind bekommen, und es werden noch mehr Dinge geschehen, die ich mir nie gewünscht habe.
    Das erste Mal hat Gül in der Küche ihrer Schwiegermutter Alkohol getrunken, Likör, den die zahlreichen Besucher, die wegen des Zuckerfestes gekommen waren, abgelehnt hatten und der Gül mit jedem Schluck besser geschmeckt hat. Schließlich war ihr schlecht geworden und sie hatte sich übergeben. An den folgenden Morgen hatte sie sich auch übergeben und gedacht, dass das immer noch eine Folge des Alkohols wäre, bis ihre Freundin Suzan sie aufgeklärt hatte, dass sie wohl schwanger war.
    Bei Ceren war ihr morgens nur zwei-, dreimal übel gewesen, und an den Morgen mit Ergün, bevor Fuat nach Hause |16| kommt, geht es ihr zwar auch nicht gut, ihre Augen sind geschwollen, sie hat nicht genug geschlafen, ihre Gedanken sind bei ihren Töchtern, doch ihr ist nicht schlecht.
    Als sie Ergün nach vier Nächten zu seiner Mutter zurückgebracht hat, entdeckt sie zu Hause auf dem Klo im Treppenhaus einen großen dunkelroten Fleck in ihrer weißen Unterhose.
     
    – Ich bin hierhergekommen, um zu arbeiten, sagt Gül, das war der Grund. Nicht, um hier in der Küche zu sitzen, so weit weg von meinen Kindern. Wir wollten doch Geld verdienen.
    – Du wolltest das Geld ja nicht, sagt Fuat, du lehnst es ab, wenn man dir etwas anbietet.
    Mittlerweile hat er die Hocker in der Küche durch Stühle ersetzt und sogar einen alten Sessel aufgetrieben, der gerade so neben die Tür passt und in dem er jetzt sitzt und Whisky-Cola trinkt.
    – Das habe ich nicht für Geld gemacht, sagt Gül, sondern um Gott gefällig zu sein. Es ist nicht richtig, sein Brot mit der Not anderer Menschen zu verdienen. Wir sind hier in der Fremde, wir müssen zusammenhalten.
    – Geld ist Geld, sagt Fuat, solange du das nicht verstehst, wirst du nie reich werden.
    – Jetzt kann ich nicht mehr zu Nadiye gehen und sagen, dass ich es doch haben will, sagt Gül.
    – Wenn du für jeden umsonst arbeitest, werden wir nie genug zusammenkriegen.
    – Ich möchte eine richtige Arbeit, sagt Gül.
    Fuat dreht das Glas in seiner Hand und nimmt noch einen Schluck.
    – Schau, sagt er, in diesem Land hat alles eine feste Ordnung, man braucht für alles eine Erlaubnis. Weil du meine Frau bist, erlauben sie dir, hierherzukommen. Und dann haben sie eine Regel, dass du erst sechs Monate hier sein musst, |17| bevor sie dir eine Arbeitserlaubnis geben. Ohne Arbeitserlaubnis kannst du hier nur schwarzarbeiten, und das ist nicht einfach. Ich werde sehen, was ich tun kann, in Ordnung?
    Fuat weiß, dass seine Frau arbeitsam ist. Als sie noch in der Türkei waren, hatte sie ihn gebeten, eine Nähmaschine zu kaufen, damit sie ein wenig zum Familieneinkommen beitragen könnte. Er war skeptisch gewesen, doch die Anschaffung hatte sich schnell amortisiert.
    Er hat auch schon eine Idee, was Gül machen könnte. Es wirkt zwar so, als würden in Deutschland andere Regeln herrschen als in der Türkei, doch Fuat weiß, dass man gewieft sein muss, wenn man zu etwas kommen möchte. Brave Leute bringen es nicht weit, nirgendwo, man muss die Augen offenhalten, ob einem nicht irgendwo ein Vorteil lacht und welche Menschen einem helfen können, den Weg zu ebnen.
     
    Zwei Tage später steht Gül am Band einer Hühnchenschlachterei und rupft Hühner, acht Stunden am Tag, mittags hat sie eine Viertelstunde Pause, vor und nach der Pause darf sie jeweils einmal auf die Toilette.
    In der ersten Nacht träumt Gül von diesen nackten und halbnackten Hühnern, überall rosafarbenes Fleisch. Fleisch, Fleisch und noch mehr Fleisch, der Geruch von Blut und die Gesichter der Männer, deren Aufgabe es ist, den bereits getöteten Hühnchen den Kopf abzureißen, die halbfertigen
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