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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52
Autoren: Selim Oezdogan
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bloßgestellt, herausgeholt aus einer Kiste toter Hühner.
    Zwei Stunden. Dass sie ein wenig hätte übertreiben können, fällt Gül erst hinterher ein. Sagt Fuat nicht selber immer, dass man gewieft sein muss auf dieser Welt, damit man nicht untergeht, damit einem nicht alles verwehrt bleibt?
    – Etwa zwanzig Minuten, sagt sie, etwa zwanzig Minuten habe ich da gelegen und kaum gewagt zu atmen, weil man den Dampf aus meinem Mund hätte sehen können. Ich möchte da nicht mehr hin.
    – Man kann sich nicht aussuchen, wo man arbeitet, wenn man keine Arbeitserlaubnis hat. Nicht mal mit Arbeitserlaubnis kann man sich das aussuchen.
    – Ich möchte da nicht mehr hin, sagt Gül, wer weiß, wann es die nächste Razzia gibt, ich habe keine Lust, in der Fremde halb erfroren durch Polizeibehörden und Gerichte geschubst zu werden. Ich gehe nicht mehr hin.
    Fuat nickt zu ihrer Überraschung. Vielleicht klang ihr letzter Satz bestimmt genug, vielleicht leuchtet ihm ein, was sie sagt, vielleicht hat er eine Vorstellung davon, wie es ist, in einer Kiste mit toten Tieren zu liegen.
    – Ich werde mich umhören, sagt er, und es klingt, als müsse er nur kurz mal horchen, um etwas anderes zu finden.
     
    Am Ende des Obstgartens von Fuats Eltern gibt es ein kleines Schwimmbecken, etwa fünfzehn Schritte lang und vier Schritte breit. Wenn er darin steht, reicht Fuat das Wasser bis zu seiner stark behaarten Brust. An heißen Sommertagen bietet |21| das Becken eine angenehme Abkühlung, auch wenn es zwei Tage dauert, bis das Brunnenwasser, das sie mühsam einfüllen, so warm ist, dass man wirklich hineinsteigen kann. Und nach spätestens zwei Wochen vermoosen dann die Zementwände des Beckens, und das Wasser ist voller Entengrieß.
    Ceren hatte am Rand des Beckens gesessen, eine Hand ins Wasser getaucht und mit den grünen Schlieren gespielt, ihre Großmutter Berrin hatte neben ihr Walnüsse geschält, als die Nachbarin Meryem sie rief.
    Berrin war aufgestanden, um einen Plausch an der gerade mal hüfthohen Mauer zu halten, die die beiden Gärten trennte.
    Während die beiden Frauen redeten, fiel Ceren ins Wasser, sie strampelte, keuchte, schrie, schluckte Wasser, ein drei Jahre altes Mädchen, das sich noch vor wenigen Wochen das Gesicht zerkratzt hatte, weil ihre Mutter sie verließ.
    Einmal war Gül im Keller des Hauses ihrer Schwiegermutter eingebrochen, in ein Loch, dessen Existenz bis dahin verborgen geblieben war. Damals hatte Berrin nicht gewusst, was passiert war, und hatte die Schreie Güls ignoriert.
    Nun begriff sie sofort, was geschehen war, und lief los. Sie ekelte sich vor Entengrütze, sie war noch nie in diesem Becken gewesen, schwimmen konnte sie genauso wenig wie Ceren, und es kostete Berrin einen Moment der Überwindung, bevor sie ins Wasser stieg.
    Meryem war über das Mäuerchen geklettert und lugte schon in das Becken, in dem Berrin versuchte, ihre strampelnde Enkelin zu fassen. Drei, vier Mal entglitt sie ihr, und als sie dann glaubte, sie richtig gepackt zu haben, und heraushob, schlug Ceren in ihrer Panik um sich, die Entengrütze war glitschig, und das Kind fiel erneut ins Wasser, nur um noch panischer zu zappeln.
    Auch Meryem sprang nun ins Becken, sie war etwas beherzter als Berrin, und gemeinsam gelang es den beiden |22| Frauen, das Kind auf den Rand zu heben, wo Ceren hustete und weinte und immer noch strampelte.
    So muss es gewesen sein.
    Du hast eine sehr gute innere Stimme, schreibt Berrin. Selbst in der Fremde hast du gespürt, dass etwas nicht stimmt, du kannst stolz sein auf diesen Muttersinn, der dich mit deinem Kind verbindet.
    Gül wird sich noch häufig fragen, ob sie ihren Töchtern eine gute Mutter sein konnte, und Ceren wird im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrer Großmutter schwimmen lernen.
    Als Gül den Brief ihrer Schwiegermutter erhält, hat sie ihren ersten Tag in der Näherei hinter sich. Einen Tag, an dem sie eine Stunde zu spät zur Arbeit gekommen ist.
    Zuerst mussten sie mit dem Bus fahren, dann in eine Straßenbahn steigen. Pass gut auf, hat Fuat Gül eingeschärft, als er sie am Freitag in die Fabrik nach Bremen begleitete, merk dir den Weg. Und wundere dich nicht, hier sind die Orte nicht so weit voneinander entfernt wie bei uns, man kann in einer halben Stunde von einer Stadt zur nächsten fahren.
    Nachdem sie aus der Straßenbahn ausgestiegen waren, hat Gül versucht, sich zu konzentrieren, hat ihre Aufmerksamkeit auf all die markanten Punkte gerichtet, die sie sehen konnte.
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