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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52
Autoren: Selim Oezdogan
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An diesem Gebäude mit der Schrift, die mit A anfängt, nach rechts, hat sie einige Male vor sich hin gemurmelt, ah, das sind Medikamente, es ist eine Apotheke, also an der Apotheke nach rechts, dann immer geradeaus, an der großen Kreuzung nach links. Die Kreuzungen waren hier sowieso viel größer, aber eine so große hatte sie bisher noch nicht gesehen, wieder geradeaus, bis der Bretterzaun aufhört, am Ende des Bretterzauns rechts.
    Das Gebäude, das sie schließlich betraten, war riesig, kein Vergleich mit der Hühnchenschlachterei, und hier gab es eine türkische Dolmetscherin, Nermin, und Gül hatte gedacht, hier wäre sie entspannter, hier könnte sie arbeiten. Nähen |23| kann sie, das hat sie gelernt, es gibt eine Übersetzerin, hier ist man nicht aufgeschmissen, nur weil man die Sprache nicht kann.
    Es hat sie auch nicht geschreckt, als sie den Raum mit den vielen Näherinnen gesehen hat, die alle an elektrischen Nähmaschinen saßen, die Mengen von Büstenhaltern, die hier genäht wurden. Sie hat sich nicht mal gefragt, ob sie in der Lage sein würde, eine elektrische Maschine zu bedienen, sie hat sich gedacht, es müsse sehr viel leichter sein, als immer zu treten.
    Schwierig ist nur der Weg, hat sie sich gesagt. Und als wollte er ihr genau das beweisen, hatte Fuat sich in den Gängen des Gebäudes verlaufen.
    – Kaum fassbar, hatte er vor sich hin geschimpft, als würden sie Fabriken nur bauen, um uns zu verwirren, die reichen Herren, die nicht wollen, dass uns die Augen aufgehen. Was soll das denn hier wieder für ein Korridor sein, wo führt der hin, es gibt ja nicht mal ein Schild, kaum fassbar, das machen die extra.
    Das ganze Wochenende hatte Gül in Gedanken wieder und wieder den Weg zur Arbeit zurückgelegt, erst der Bus, Umsteigen in die Straßenbahn mit der Nummer 6, dann Aussteigen bei dieser Straße mit dem langen Namen, der aus zwei Wörtern zusammengesetzt ist, zuerst eins, das mit F anfängt, und dann eins mit M. Gegen die Fahrtrichtung laufen, an der Apotheke rechts …
    Ich werde es schon schaffen, hat sie sich immer wieder gesagt, doch das ganze Wochenende ist sie unruhig gewesen und ist bereits in der Nacht auf Sonntag immer wieder aus dem Schlaf hochgeschreckt. Als hätte es nicht gereicht, sich um Ceren Sorgen zu machen, als würde der Schrecken des Traumes sich nicht weiterhin in ihre Tage erstrecken.
    Doch je häufiger sie den Weg in Gedanken durchging, desto schlechter konnte sie sich erinnern, so kam es ihr vor. Eine große Stadt, Bremen, was sollte sie tun, wenn sie dort |24| verlorenging. Sie hatte ja schon in Istanbul Angst, und da sprachen alle ihre Sprache.
    Montagmorgen saß sie im Bus auf der äußersten Kante ihres Sitzes, zählte die Stationen und schaute die ganze Zeit konzentriert aus dem Fenster. Sie stieg in die richtige Straßenbahn, bekam dort keinen Sitzplatz, sah aber unablässig nach draußen und zählte rückwärts: Noch vier Haltestellen, noch drei, noch zwei, noch eine.
    Sie ging gegen die Fahrtrichtung, bog an der Apotheke rechts, an der großen Kreuzung links ab und ging und ging und ging, aber es kam einfach kein Bretterzaun. Sie war auf der richtigen Straße gewesen, sie hatte bis hierher alles wiedererkannt und war auch beide Male richtig abgebogen, ihr Gefühl sagte ihr, dass sie längst am Bretterzaun hätte vorbei sein müssen, doch da war keiner.
    Nur noch bis zur nächsten Querstraße, hatte sie sich gesagt, nur noch eine, die nächste ist es vielleicht, die da vorne, könnte es nicht die sein. Sie war schon zwanzig Minuten auf dieser Straße gegangen, bevor sie sich entschließen konnte umzukehren. Ihr war warm, und ihr Atem ging noch zügiger als sie selbst.
    Sie war verwirrt, konnte sich nicht erklären, was geschehen war. Fuat hat sich in der Fabrik auch verlaufen, versuchte sie sich zu trösten, aber sie begriff einfach nicht, was sie falsch gemacht hatte.
    Bis sie zu der Stelle kam, an der der Bretterzaun gewesen sein musste. Ach, diese Einfalt, schalt sie sich, dieser dumme Kopf. Da stand ein Gebäude, so neu, dass es fast glänzte, der Zaun hatte die Baustelle verborgen.
    Weil Baustellen und Baugruben nicht eingezäunt werden in der Türkei, war ich so dumm, dachte sie. Dabei war es doch offensichtlich, dass hier der Zaun gewesen war. Wenn es bei uns solche Zäune gäbe, wäre Orhan Veli nicht nachts in dieses Loch gestolpert und gestorben, dachte sie, er würde heute |25| noch leben und hätte Zeit gehabt, uns noch mehr Gedichte zu
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