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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52
Autoren: Selim Oezdogan
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mal die Grundschule beendet, denkt sie, aber das geht nicht mit rechten Dingen zu. Nermin hat gesagt, dass ich gestern den Rekord gebrochen habe, 391 Stück. Da müsste ich mehr Geld bekommen, mehr als jede andere, wenn es der Rekord ist. Akkord haben sie gesagt und ihr erklärt, was das ist, und demnach …
    – Frag nach, da stimmt was nicht, sagen auch ihre Landsmänninnen, und Gül geht zu dem Mann, der die Lohntüten herausgibt.
    Vielleicht habe ich auch falsch gezählt, sagt sie sich, obwohl sie dreimal nachgezählt hat, vielleicht muss man länger hier arbeiten oder ich verstehe etwas anderes nicht.
    – Wenig, sagt sie dem Mann und zeigt ihr Geld.
    Es ist ihr unangenehm, als würde sie etwas fordern, das ihr nicht zusteht. Wären da nicht die vier anderen, die einige Meter entfernt stehen und die Szene neugierig beobachten, würde sie wohl eine Geste machen, die signalisieren soll: Ach, vergessen wir es.
    Der Mann zählt ihr Geld und nickt dann.
    – Ist richtig, sagt er.
    – Akkord, sagt Gül, ich viel Akkord.
    Ihr ist heiß, als hätte sie etwas verbrochen, doch sie kann nun nicht einfach wieder gehen.
    Der Mann nickt abermals und lässt Nermin rufen. Auf sie redet er kurz, aber energisch ein, und Gül glaubt einen Augenblick lang den Widerschein von Freude auf dem Gesicht der Übersetzerin zu sehen. Dann wendet sich Nermin mit ihrem Großstadtakzent und ihren geschminkten Lippen an Gül.
    – Du arbeitest schwarz hier, nicht wie die anderen mit Vertrag, du hast keine Arbeitserlaubnis. Er sagt, sie können dich nicht ausbezahlen wie die anderen Arbeiterinnen. Sie gehen ein Risiko ein, indem sie dich hier arbeiten lassen.
    |31| Gül schaut Nermin an und dann den Mann, der bestätigend nickt, als hätte er jedes Wort verstanden. Dann sieht sie nochmals zu Nermin. Irgendetwas an dir hat mir von Anfang an nicht gefallen, denkt Gül, ich mag keine Studierte sein, aber ich bin auch kein Gimpel.
    – Du selber hast mir am Montag noch erklärt, dass ich mehr verdiene, wenn ich so viele Mützen nähe.
    – Da … da wusste ich noch nicht, dass du eine Schwarzarbeiterin bist.
    Gül nickt.
    – Nächste Woche …?
    – Ich werde schauen, was ich tun kann, aber nächste Woche bekommst du sicherlich etwas mehr, wenn du weiter so arbeitest.
    Auf dem Heimweg sitzt Gül in der Straßenbahn und denkt daran, wie ihre Schwester Melike sie damals in der hintersten Ecke des Gartens zum Rauchen genötigt hat. Damit Gül nicht verraten konnte, dass Melike geraucht hatte. Und später hatte Melike sie immer mal ziehen lassen. Schweigeanteil nannten sie das. Dieses Wort geht ihr dauernd im Kopf herum. Damals waren sie Kinder. Und sie waren Schwestern.
    Nachdem sie ihre Lohntüte auf den Tisch gelegt hat, sagt sie zu Fuat:
    – Ich will dort nicht mehr arbeiten. Weil ich keine Arbeitserlaubnis habe, zahlen sie mir weniger. Vier Tage lang habe ich mehr BHs genäht als jede andere in der Halle, und ich bekomme am wenigsten Geld. Ich bin doch kein Trottel.
    – Das ist doch gutes Geld, sagt Fuat, der die Scheine und Münzen zählt und dann in seine Tasche steckt.
    – Sie beuten mich aus, ich will dort nicht mehr hin.
    – Ach ja, sie beuten dich aus, ja? Was machen sie denn mit mir? Nacht für Nacht bin ich in dieser Fabrik, ich kann nie richtig schlafen, wir schuften hier alle wie die Ochsen. Das ist nicht wie in der Türkei, wo man auch mal sachte machen |32| kann und ein Schwätzchen hält und einen Tee trinkt. Das ist keine Kirmes hier, hier wird gearbeitet.
    – Ich habe nichts gegen Arbeit, aber sie betrügen mich, beharrt Gül.
    – Und soll ich jetzt losziehen und eine Arbeit suchen, die deinen Beifall findet? Ich habe ja sonst nichts zu tun, ich kann ja den lieben langen Tag Ausschau halten nach einer Stelle, die dich entzückt.
    Er schiebt seinen Teller von sich.
    – Immer dieser Fraß, sagt er. Nicht mal was Vernünftiges zu essen bekommt man in diesem Land, aber meine Frau ist mäkelig, wenn es um ihre Arbeit geht. Kaum fassbar.
    Er kann aufbrausend sein, ungerecht und gemein, er ist manchmal unberechenbar, doch er flucht selten. An Stellen, wo andere Männer Flüche anbringen, sagt er stets: Kaum fassbar.
    – Du träumst, sagt er zu seiner Frau, du träumst. Du hast einen Mann, der jede Nacht schuftet, aber du wachst trotzdem nicht auf.
    Er steht auf, knallt die Tür und geht.
     
    Gül kann nichts dafür, dass das Essen Fuat nicht schmeckt, aber sie fühlt sich dennoch schuldig. Ihr selber schmeckt es oft auch nicht,
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