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Heimstrasse 52

Heimstrasse 52

Titel: Heimstrasse 52
Autoren: Selim Oezdogan
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fährt Fuat sie an, ohne dass Gül einen Grund für diese Heftigkeit erkennen kann. Sie ist erschrocken, versucht sich das aber nicht anmerken zu lassen.
    – Saniye war wohl vorher dort. Sie hat gesagt, es liegt am Meer. Wie weit ist es weg von hier?
    – Etwas mehr als eine Stunde.
    |38| – Gibt es wirklich ein Meer in Deutschland?
    – Hamburg ist nicht am Meer, sagt Fuat, sie haben einen Hafen, das ist alles.
    – Aber es gibt ein Meer?
    – Ja, natürlich gibt es ein Meer, wo sollen die Schiffe denn sonst hinfahren? Hast du noch mehr Fragen, oder soll ich zu spät zur Arbeit kommen?
    In Güls Vorstellung ist Hamburg nun eine Stadt, die Istanbul ein wenig ähnelt. Hätte ich wohl auch Angst, so nah am Wasser zu leben?, fragt sie sich.
     
    Saniye hat nicht nur vor dem Wasser Angst.
    – Komm, lass uns noch eine rauchen, hat Gül ein paar Tage später auf dem Heimweg gesagt, froh, nun eine Gefährtin an ihrer Seite zu haben. Sie sind in eine kleine Straße abgebogen. Die Angewohnheit, heimlich zu rauchen, wird Gül ihr Leben lang nicht verlassen. Noch nie hat sie eine Zigarette in Fuats Gegenwart geraucht, obwohl er möglicherweise nichts dagegen gehabt hätte. Und ebenso wenig hat sie schon mal auf offener Straße geraucht, wie es die deutschen Frauen tun.
    An einem Mäuerchen, auf das in Brusthöhe Gitterstäbe aufgesetzt sind, bleiben die beiden stehen. Durch das Gitter kann man in einen Vorgarten sehen. Sie stellen ihre Taschen auf die Mauer, holen ihre Zigaretten heraus und haben sie noch nicht angezündet, als plötzlich ein Schäferhund laut bellend auf sie zurennt.
    Die beiden Frauen laufen erschrocken einige Schritte weg, der Hund bellt sie durch die Gitterstäbe an, die Vorderpfoten auf der Mauer. Gül kann kaum atmen, so schnell schlägt ihr Herz.
    – Hast du Angst vor Hunden?, fragt Saniye.
    Gül nickt. Sie kann nicht sprechen, da ist ein wildes Pochen in ihrem Hals.
    – Ich auch. Gerade vor solchen großen. |39| Die Taschen der beiden Frauen liegen noch auf der Mauer.
    – Was machen wir jetzt?, fragt Gül nach einer Pause, ihre eigene Stimme klingt fremd in ihren Ohren.
    – Wir warten, bis er sich beruhigt hat. Komm, lass uns erst mal eine rauchen.
    – Ich habe die Streichhölzer fallen lassen.
    So stehen sie da, mit ihren Zigaretten in den Händen, und gehen noch einige Schritte zurück, während der Hund sie weiter anbellt. Nach einiger Zeit beruhigt das Tier sich und entfernt sich von der Mauer. Doch sobald Saniye oder Gül oder beide sich nähern, springt er wieder auf den Vorsprung und kläfft.
    Ein ums andere Mal wiederholt sich dieses Spiel. Ob sich die Frauen langsam anschleichen, ob sie versuchen schneller zu sein als der Hund, ob sie lange warten oder ihre Annäherungen kurz hintereinander starten, es macht keinen Unterschied, sie kommen nicht mal in die Nähe ihrer Taschen.
    – Wegen dir habe ich heute Morgen meine Fahrkarte weggeworfen, sagt Gül.
    – Mit der hättest du sowieso nicht mehr fahren dürfen, entgegnet Saniye.
    – Wie sollen wir denn nun heimkommen? Mein Geld ist in meiner Tasche.
    – Meins auch.
    Mittlerweile steht eine Deutsche auf ihrem Balkon in dem Haus neben der Mauer und schaut den beiden zu.
    – Wir müssen sie herunterwinken, sagt Saniye, sie muss uns irgendwie helfen.
    – Wie sollte sie uns helfen können?
    – Vielleicht ist es ihr Hund.
    – Wenn es ihr Hund wäre, hätte sie doch längst was getan, oder? Was ist das auch für ein Land, in dem Menschen Hunde besitzen, obwohl sie keine Hirten sind.
    – Wir brauchen Geld, um nach Hause zu kommen, sagt |40| Saniye. Wir leihen uns Geld von ihr. Ich winke sie runter. Du kannst besser Deutsch, sprich du mit ihr.
    Und schon winkt Saniye, und Güls Herz schlägt erneut viel zu heftig. Sie kann besser Deutsch.
    Die Frau verschwindet tatsächlich von ihrem Balkon. Während Gül hochblickt, bemerkt sie, dass da noch mehr Menschen auf Balkonen stehen und herunterschauen. Seit ich Saniye kenne, wird mir oft heiß, denkt sie.
    Die Frau erscheint mit einer Zigarette zwischen den Fingern in der Haustür und kommt dann gemächlich auf die beiden zu.
    – Guten Tag, sagt Gül, als sie nahe genug ist.
    – Guten Tag, sagt die Frau, und Saniye schaut einfach freundlich und wiederholt ebenfalls diese Worte.
    – Hund, sagt Gül, Tasche. Wir nach Hause. Keine Geld. Sie zieht einen goldenen Armreif von ihrem Handgelenk und reicht ihn der Frau.
    – Bis Montag. Geld. Fahrkarte. Montag wieder sammeln.
    Die Frau nimmt einen Zug
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