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Heimspiel

Heimspiel

Titel: Heimspiel
Autoren: Wolfram Weimer
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uns weg und schauen, was die Medien morgen daraus machen. Dann positionieren wir uns.«
    Den verächtlichen Blick der Büroleiterin bemerkt er nicht, weil er seine Augen auf die eigenen, unruhigen und obendrein schwammigen Daumen gesenkt hat.
    Unterdessen hat die Kanzlerin auf dem Display ihres Handys den Eingang einer Kurznachricht des bayerischen Ministerpräsidenten entdeckt: »Wir meinen es ernst. Beckenbauer wird unser Kandidat. Er hat mir gestern zugesagt.« Sie zeigt keine Regung, keiner in der Runde hat es überhaupt mitbekommen. Es ist eine politische Unverschämtheit, sie so zu überrumpeln. Doch je stärker sie das spürt, desto kühler und schneller entwickelt sie einen Plan.
    Noch während der Generalsekretär seine Feigheitstaktik darbietet, hebt sie demonstrativ langsam den Kopf, fasst mit beiden Händen an die Teetasse und – aber das bemerkt nur die Büroleiterin – zieht unter dem Tisch ihre Schuhe wieder an. Dann sagt sie, die bislang zu allem geschwiegen hat, endlich:
    »Beckenbauer ist unser Mann. Diesen Satz von mir verbreiten Sie bitte inoffiziell auf allen Kanälen.«
    Sie sagt es mit einer Kürze und Entschiedenheit, die alle überrascht. Hat sie es doch gewusst? Wieso legt sie sich so fest? Sie ist doch die Erfinderin der Politik als Nachhut. In der Runde macht sich Verblüffung breit. Nur der Kanzleramtschef ist entsetzt. Noch ehe irgendwer etwas sagen kann, beendet die Kanzlerin die Konferenz.
    »Also los, an die Arbeit!«
    Schlagartig erhebt sich die Runde, alle streben zur Tür, nur die Büroleiterin nimmt sich den Regierungssprecher zur Seite und flüstert ihm zu:
    »Wir brauchen ein professionelles Briefing für die Kanzlerin!«
    »Was meinen Sie damit?«, fragt der verblüffte Sprecher zurück.
    »Sie muss ganz schnell möglichst viel über Fußball lernen. Die nächsten Wochen werden mit Gesprächen und Interviews über Fußball gefüllt sein. Außerdem steht die Fußball-WM vor der Tür, mitten im Wahlkampf. Also, wer kann uns da diskret helfen?«
    »Was weiß sie denn vom Fußball?«
    »So viel wie von portugiesischem Fado-Gesang. Nichts, gar nichts. Wir brauchen einen Crashkurs!«
    »Gut, ich kümmere mich darum.«
    Der Regierungssprecher braucht 48 Stunden. Die Mission ist diffiziler als gedacht. Einen offiziellen Fußballfunktionär kann er nicht ansprechen, die Defizite der Kanzlerin wären rasch in ganz Fußball-Deutschland bekannt. Noch weniger geht daher ein Sportjournalist, obwohl der ihr auch die Kommunikationsseite der Szene hätte erklären können. Alles muss ungeheuer diskret und schnell passieren. Der Fußballlehrer der Kanzlerin muss zudem sofort Zeit haben, den rechten Ton finden, und ein Ossi oder Sozi oder eine Frau darf er schon gar nicht sein. Er denkt über Jürgen Klinsmann nach, doch scheint ihm der schon zu amerikanisch. Oliver Kahn zieht er in Erwägung, doch der dreht sich zu sehr um sich selbst. Und ihm fehlt das Abstraktionsvermögen. Er sinniert über Uli Hoeneß, doch wo bleibt dann die Milde und Unsichtbarkeit des Beraters?
    Schließlich kommt der Regierungssprecher auf Günter Netzer. Klug genug für das Reflexive, nicht zu klug, um das Unmittelbare am Fußball wegzutheoretisieren.
    »Netzer hat ein politisches Bewusstsein, aber ein kleines. Er denkt in wirtschaftlichen, also rationalen Kategorien. Er kennt alles und jeden, er hat ein pädagogisches Naturell, er ist verschwiegen wie ein Schweizer Bankkonto, und er kann ab morgen«, so preist der Regierungssprecher der Büroleiterin die neue Personalie an.
    Die erwidert darauf trocken:
    »Das sind zu viele Argumente, um überzeugend zu sein. Doch wir sollten es trotzdem versuchen. Sorgen Sie aber bitte für Diskretion. Falls er gesehen wird, geht es offiziell um Sondierungsgespräche für die Planung der Fußball-WM.«
    Noch vor der offiziellen Nominierung von Franz Beckenbauer als Bundespräsidentenkandidat kommt Günter Netzer zur ersten Nachhilfestunde ins Kanzleramt. Die Flure im fünften Stock sind menschenleer. Netzer schaut sich die gewaltigen Bilder moderner Maler in der amphitheatrigen Vorhalle an. Den türkisfarbenen Teppichboden findet er altmodisch, außerdem schlägt er in einer Ecke Blasen – Stolpergefahr wie auf einem schlecht gepflegten Stadionrasen in Mönchengladbach. 7000 Quadratmeter sind von diesem Teppichboden verlegt worden, luftdurchlässig, damit die Klimaanlage im Boden die Luft durch unsichtbare Wabenlöcher bis hinein auch ins letzte der 370 Büros blasen kann. Netzer
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