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Heimat

Heimat

Titel: Heimat
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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und der Internet-Gruppe »Unter Nutella gehört Butter« alles sein kann, was bleibt dann noch? Was ist mit der realen Welt, der Natur, den Traditionen, dem Brauchtum, den verlorenen Werten und Institutionen? Die Wahrheit ist, es bleiben von den menschengemachten Institutionen jene, die den Menschen wichtig sind, und andere verschwinden. Sie haben kein Eigenleben, keine eigene Existenzberechtigung, wenn sie niemandem mehr wichtig sind. Ebenso wie die Heimat. Es gibt sie, solange jemand an ihr hängt.

    Den großen bombastischen Überbau, Heimat als politisches Programm, die Beutelschneiderei, das alles hatten wir jetzt schon, und auch den Kulturpessimismus. Die Sache wird nicht besser, wenn wir den Untergang des Abendlands beschwören. Es bleibt uns nichts übrig, als das Durcheinander auszuhalten, die Vielfalt zu genießen. Heimat ist nicht groß und überhöht, scharf abgegrenzt und exklusiv. Sie ist klein, subjektiv und individuell, und sie darf sich wandeln. Heimat hat jeder und jeder für sich.

    Zum ersten Mal seit langer Zeit könnten wir die integrative Kraft dieser deutschen Metapher nutzen, ohne uns am politischen Ballast abzuarbeiten. Die Erkenntnis, dass es sich um ein vielschichtiges, aber universelles Bedürfnis handelt, kann trotz allem als Bindeglied wirken.
Den Heimatbedarf der anderen anzuerkennen, den anderen hier Heimat zuzugestehen - das wäre ein Anfang. Diese Gesellschaft hat es bitter nötig, ihre Kluften zu überwinden, zwischen einheimisch und zugewandert, zwischen Ost und West. Heimat soll nicht nur als Höhle dienen, so hat es der Psychoanalytiker Uwe Langendorf formuliert, sondern als Brücke zur Welt. 287 Am Ende hat das kleine private Gefühl doch ganz erstaunliche Kraft.

    Ich bin mit vielen Geschwistern aufgewachsen in einem wunderschönen Haus mit Garten, gleich dahinter fing das an, was wir Wildnis nannten. Dort durften wir frei herum streunen, und das taten wir auch, jeden Nachmittag. Es war ein Traum für Kinder, und meine Eltern haben alles richtig gemacht. Und doch wollte ich schon als kleines Mädchen in der Fußgängerzone wohnen. Ich stellte mir das toll vor. Aus dem ersten Stock sich von oben die Leute anschauen, immer Menschen in der Nähe, immer Leben vor dem Fenster, und wenn man Lust auf eine Semmel hat, geht man einfach zum Bäcker gegenüber.

    Naja, und so ist die Geschichte nun eben ausgegangen: Ich wohne in der Fußgängerzone. Oder jedenfalls fast. Mitten in der Großstadt, in einer Steinwüste. Meistens lärmt sie, manchmal stinkt sie, und häufig denkt man, och nee, nicht auch noch das. Ich habe Gewissensbisse wegen meiner Kinder, weil sie nicht im Haus mit Garten aufwachsen und bin nur halb beruhigt, wenn sie mir den Zusammenhang zwischen dem weißen Zeug aus dem Tetrapak und einer Kuh einigermaßen plausibel herleiten können.

    Aber wenn ich morgens um sieben mit dem Fahrrad an den Straßen-Kastanien entlangfahre, und es blinzelt ein Sonnenstrahl durch die großen Blätterhände, und die Luft ist noch kühl, aber es liegt schon ein Hauch von Sommer in der Luft, dann ist mir vollkommen klar, dass ich hierher gehöre, dass ich nicht wegziehe, jedenfalls nicht, solange ich es vermeiden kann.

    Nicht nur, dass ich tatsächlich schräg gegenüber meine Schrippen kaufen kann. Ein kleines Stück weiter ist der Markt mit der Imbissbude,
wo angeblich Gerhard Schröder die beste Currywurst seines Lebens gegessen hat und Elmar Wepper und Til Schweiger auch, obwohl es ein Rätsel der Menschheit bleibt, wie es die Herren ausgerechnet an diese Pommesbude verschlagen haben sollte. Auf dem Weg dorthin liegt der Friseursalon, wo noch die Trockenhauben von 1973 hängen und auch sonst scheinbar die Zeit still steht. Und nicht weit davon ist der Weinhändler mit den Spezialpaketen von Stuart Pigott. Einmal um die Ecke gibt es den Buchladen und unweit davon die Schule. In fünf Minuten bin ich da. Ich kann mir sicher sein, dass ich unterwegs jemanden zum Plaudern treffe - die Nachbarn oder die Erzieherin meines Sohnes oder den Besitzer des kleinen italienischen Cafés. Es ist wunderbar.

    Natürlich entgeht auch mir nicht die Ironie, dass ich hier von Kastanien schwärme und von dörflichem Leben, von ausgetrampelten Pfaden und vertrauten Gesichtern in meinem Hohelied auf die Großstadt. Aber das ist mir egal. Es muss sich niemand für seine Heimat rechtfertigen. Es sind nicht die drei Opernhäuser, die mich hier halten, und auch nicht die 220 Clubs. Sicher gehört das kleine
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