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Heimat

Heimat

Titel: Heimat
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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»Bürger« wo der Pfeffer wächst. Es soll, bitteschön, alles so bleiben, wie es ist, ein wenig abenteuerlich und durcheinander und doch irgendwie schön - eben »bunter, als die bürgerlichen Kreise es wollen«.

    So entspinnt sich, unter dem Totenkopf an der Wand und dem »Free Abu Jamal« Plakat so etwas wie - ja genau, eine Heimatdebatte, nicht unähnlich der in einem niedersächsischen Dorf, nur vielleicht einen Tick verbissener. »Wir müssen eben dafür sorgen, dass der Ruf von Neukölln aufrecht erhalten wird«, meint einer der jungen Männer vielsagend. Und das Mädchen mit den asymetrisch rasierten Haaren in der vorletzten Reihe sagt, was das heißt: »Schmeißt weiter euren Müll vor die Tür!«

4. Kein Weg zurück: Vom Mythos der alten Heimat
    Wie sagte Sahin, das Berliner Großstadtkind, der Neuköllner, der junge Mann mit der großen Sehnsucht nach der türkischen Heimat? »Da ist die Luft ganz anders, das Leben ist ganz anders.« Er will, so sagt er es mit seinen 22 Jahren, unter anderem deshalb nicht die deutsche Staatsbürgerschaft, weil er dann womöglich nicht in der Türkei begraben werden dürfte. Derzeit denkt er viel an den Militärdienst. »Das muss geil sein, seinem Vaterland zu dienen«, sagt er. Ein Freund hat ihm davon vorgeschwärmt. »Der sagt, das ist einmalig, das kannst du dir nicht vorstellen« - das Gemeinschaftsgefühl, die Zugehörigkeit, die Gewissheit, dass alles Zweck und Ziel hat. Es ist eine romantische Vision, und Sahin zeigt sich tief beeindruckt.

    Der Mythos der Rückkehr in die Heimat wirkt bis heute auf Hunderttausende - auch auf jene Kinder der zweiten und dritten Generation, für die Rückkehr eigentlich Auswanderung bedeutet. 2009 sagten in einer Umfrage 42 Prozent der Türken in Deutschland, sie wollten in die Türkei, und zwar die Jungen noch häufiger als die Älteren. Allerdings ist dies etwas, was man sich im Schatzkästchen für später bewahrt. Nur vier Prozent wollen innerhalb der nächsten zwei Jahre in die Türkei und weitere neun Prozent in den kommenden zehn Jahren. 273

    Die deutsche Politik hat sich den Rückkehrmythos lange zu eigen gemacht - er kam ihr sehr gelegen. Noch 2006 wehrte sich der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble damit gegen Vorwürfe, man habe die Integration der hier lebenden Zuwanderer verschlafen: »Bei allem Respekt, die schlichte Wahrheit ist, dass kein Mensch - übrigens insbesondere nicht diejenigen, die gekommen sind - am Anfang die Vorstellung hatte, dass die Zuwanderer, die in den 60er- und frühen 70er-Jahren als Gastarbeiter kamen, auf Dauer hier bleiben würden. (…) Erst später haben sie - weil das Land gar nicht so furchtbar ist - beschlossen, hier zu bleiben und haben ihre Kinder und Familien nachgeholt.« 274 Erst wollten sie zurück, dann war Deutschland doch irgendwie schön - nun ja, die Wahrheit ist doch weniger schlicht. Tatsächlich sind neben den Millionen die blieben, weitere Millionen auch wieder gegangen, von denen wiederum etliche erneut nach Deutschland zurückgekehrt sind.

    Die Potsdamer Wissenschaftler Diether Hopf und Chryse Hatzichristou rechnen vor, dass im Laufe der Jahrzehnte bis Anfang der 90er-Jahre knapp 80 Prozent der aus den sogenannten Anwerbestaaten Zugewanderten zurückkehrten. Bis zu dem Zeitpunkt waren von dort elf Millionen Personen in die Bundesrepublik gekommen und neun Millionen wieder abgewandert. Die höchsten Rückkehrerquoten mit fast 90 Prozent hatten demnach Spanier und Italiener; unter den Türken lag die Quote bei immerhin 66 Prozent. 275

    Im Migrationsbericht 2008 hält auch die Bundesregierung fest: »Parallel zum Anstieg der Zuwanderung in Deutschland Ende der 1980er Jahre verließen - mit einer zeitlichen Verzögerung - auch vermehrt Menschen Deutschland.« 276 Da es hier offiziell keine Einwanderer gibt, kennt die Statistik konsequenterweise auch keine Auswanderer. Erfasst werden nur die »Fortzüge« bei Abmeldung ohne neue Anmeldung im Inland. Bezogen darauf verließen - bei einer Zahl von 16,5 Millionen registrierten Zuzüglern - zwischen 1991 und 2008 allein 12,3 Millionen Menschen das Land, davon zehn Millionen mit ausländischem Pass. Im Jahr 2008 vermerkten die Statistiker 563.000 Fortzüge von Ausländern.

    Bei allen ehemaligen Gastarbeiter-Anwerbeländern fällt der Saldo inzwischen negativ aus: Es ziehen mehr Menschen weg als her. Die Zahl der Griechen in Deutschland schwand 2008 um knapp 8.000, die der Italiener um knapp 6.000 und die der Spanier und
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