Heimat
offen zu halten.« Von Laufkundschaft kann sie schon lange nicht mehr leben, die Köfte-Bude direkt neben ihr übrigens auch nicht. Die hat schon den fünften Besitzer in drei Jahren - sie vermutet dunkle Machenschaften, Geldwäsche oder so etwas. »Hier gibt es ja kaum noch deutsche Geschäfte«, sagt die Frau mit den grau gesträhnten dunklen Locken. Die ganze Straße rauf und runter nur noch Backstationen und Thai food zum Mitnehmen und Handyläden und gebrauchte Waschmaschinen mit Rabatt für Hartz-IV-Empfänger.
Als deutscher Einzelhändler könne man hier kaum überleben, sagt Mona Schmidt. Die Bewohner könnten kaum Deutsch, sie »unterhalten sich ja nur in ihrer Landessprache«. Grundsätzlich habe sie kein Problem mit ihren fremden Nachbarn, sie sei sogar schon einmal auf einer türkischen Beschneidungsfeier gewesen, es war der Sohn eines Mannes, mit dem sie in ihrer Kneipe Karten spielte. Aber die jungen Kraftprotze, die regen sie auf. »Das ist schon heftig, was da abläuft.« Die Jungs erlauben sich üble Späße mit dem Scherzartikelladen. »Sie bespucken die Scheiben, und mich als Frau respektieren die überhaupt nicht. Die stehen im Laden und werden schon pampig, wenn ich sie nicht alleine alles anfassen lasse. Das ist schon ganz schön krass.«
Früher hätten sich in ihrem Wohnhaus noch alle gegrüßt, als Kinder hätten sie den alten Leuten die Taschen hoch geschleppt. »Das wird alles nicht mehr gemacht«, seufzt die gebürtige Neuköllnerin. Jetzt sei alles so »abgeschottet«, jeder für sich. Es gebe viele Cafés, in die Deutsche nicht hineingingen - »das ist ja auch gar nicht gewollt«. An einigen dunklen Ecken sei sie nachts lieber nicht zu Fuß unterwegs, höchstens mit dem Fahrrad, und dann aber flott. Ihr selbst sei zwar noch nie etwas passiert, aber ihrem Sohn hätten Jugendliche mal das Handy geraubt. Sie findet den Kiez »kinderfeindlich«, der Senat tue zu wenig. »Da wird an der falschen Ecke gespart.« Große Flächen lägen brach, zum Beispiel die ehemalige Kindl-Brauerei, wo nur ein Trödelmarkt vor sich hinwuchere. Und jetzt auch noch der Flughafen. Hätte sich die Landesregierung nur von dem Plan überzeugen lassen, dort eine Privatklinik mit eigener Landebahn anzusiedeln, dann hätte er zumindest nicht Millionen für den Unterhalt des abgeriegelten Geländes zahlen müssen, meint Mona Schmidt. Und ein bisschen Geld wäre auch in die Stadt gekommen.
Wegziehen, dem Gefühl des Niedergangs und der Fremdheit entfliehen, das kommt für sie allerdings nicht in Frage. »Ich bin seit mehr als 50 Jahren hier in Neukölln. Ich möchte nicht hier weg.« Aus dem Haus auf die Straße zu gehen und Leute zu sehen, alles in Laufweite, die Kneipe an der Ecke: »Ich brauche das hier, in einem kleinen Dorf würde ich irre werden.« Sie denkt an Lichtenrade, wo ihre Eltern kürzlich hingezogen sind. Dort sei nichts, überhaupt nichts. Bis auf das Häuschen und den Garten. Aber einen Schrebergarten habe sie hier auch, ein Fleckchen Grün mitten in der Stadt, was braucht man mehr?
»Ich bin hier aufgewachsen, ich arrangiere mich mit den Leuten«, sagt sie. »Das ist auf jeden Fall meine Heimat.«
Die Familie Celikoglu dagegen hat dem Kiez den Rücken gekehrt: zu laut, zu dreckig, zu gefährlich, so erzählt es die älteste Tochter Fulya, eine zarte junge Frau mit perfektem Deutsch und perfektem Make-up. Jetzt wohnen die türkischen Eltern und ihre drei Töchter in Mariendorf, jenseits des Tempelhofer Flugfelds. »Da ist das soziale Umfeld ganz anders«, meint Fulya, die noch in Neukölln das Abitur gemacht hat und nun für einen Bachelor in Sozialarbeit paukt. »Da sind mehr Deutsche, es ist ruhiger als in Neukölln.« Dort, davon ist sie überzeugt, wird es immer schlimmer. Die Armut bringt immer mehr Aggression. Auf der Straße wird geprügelt, weil einer schief geschaut hat. Der älteste Sohn kriegt Schläge von seinem Vater und gibt sie weiter an Schwächere. Die jüngeren Brüder schauen sich das ab. »Am schlimmsten sind die 14-, 15-jährigen«, meint Fulya, selbst inzwischen 25. Wenn sie sich in der Schule streiten, verabreden sie sich nachmittags zur Schlägerei. Da kommen schnell 40, 50 Jugendliche zusammen - die Mädchen werden als Zuschauerinnen eingeladen. Schon die Kinder seien verwahrlost und verlaust, im Winter seien sie ohne richtige Jacken unterwegs und im Sommer mit ungewaschenen Haaren. »Es bricht einem das Herz«, meint Fulya. In Mariendorf gebe es so etwas nicht, die
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