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Heimat

Heimat

Titel: Heimat
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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Massenphänomene, von denen viele noch nie etwas gehört haben. Die einen twittern minütlich, während sich die anderen fragen, was, um Gottes willen, das soll. Es zerfleddern die Tage, es bleibt zu wenig Kraft, um über die Zeit vor dem Urknall nachzudenken oder über die Zeit als die Freundin aus der Grundschule wegzog, und wie hieß die eigentlich? Tun wir’s doch, dann springt uns eine nostalgische Sehnsucht an nach einer ruhigen Zeit und einem ruhigen Ort - oder vielleicht auch nur Sentimentalität. Wissen, wo man hingehört? Schön wär’s.

    Und dann auch noch dieses kulturelle Durcheinander. »Rätselhaftes Land«, schrieb der »Stern« 2009. »So bunt, so unberechenbar. Irgendwie ganz - undeutsch. So ganz anders als früher.« 283 Wenn einer mit einem Mohawk in Oberammergau auftaucht, dann ist das eben so, und wenn zwei Männer heiraten, dann eben auch. Seit Döner Kebab noch vor der Pizza der beliebteste deutsche Imbiss ist, hat sich die Ausgrenzung der »Knoblauchfresser« auch irgendwie erledigt.

    Das ist alles ein großer Fortschritt. Wir sind weiter gekommen in den vergangenen 60 Jahren. Wir sind treue Europäer geworden und
Atlantiker und Exportweltmeister. Diskriminierung funktioniert nicht mehr als Selbstläufer, man muss sich dafür rechtfertigen. Von der Bundeskanzlerin abwärts rufen alle nach Integration. Die Abschottung der Heimat, die Abschottung der Deutschen als homogene Gruppe, das alles hat sich überlebt, und im tiefsten Herzen ist das auch allen klar. Aber die Erkenntnis hebelt ja nicht alle Reflexe aus. Rational klappt das schon ganz gut mit dem Wunsch nach Toleranz und Modernität. Aber emotional wird es uns häufig zu anstrengend. Das einfache Leben, übersichtlich und klein? Schön wär’s.

    Die schlechte Nachricht ist: Es geht nicht, es gibt keinen Weg zurück. Einfacher wird es nicht mehr. Wir müssen mit dem Kleingedruckten leben, mit diesen vielen lästigen Grauzonen zwischen gut und böse, mit der Vielfalt, ach. Heimat durch Ausgrenzung, das ist ausgeschlossen nach dieser verlustreichen Geschichte. Die gute Nachricht: Das macht uns frei, zum ersten Mal nach langer Zeit.

    Heimat in der Region, wo man geboren ist, in einem bestimmten Zungenschlag, einer bestimmten Landschaft, die uns überdauert - das wird sicher für viele der entscheidende Ankerpunkt bleiben. Viele Deutsche hängen ihr ganzes Leben innig an ihrer Kurve im Fluss, ihrem Hügel, ihrem Blick auf den See, an ihrem Völkchen und ihrer Mundart. In einer Studie des Instituts für Deutsche Sprache gaben 2008 immerhin 60 Prozent der Befragten an, sie sprächen Dialekt 284 - eigentlich unglaublich nach Jahrzehnten massenmedialer Beschallung mit Hannoveraner Hochdeutsch. »Die Deutschen sind im Herzen Lokalpatrioten«, schreibt Birand Bingül.« 285 Das werden sie bleiben. Und das hat doch etwas sehr Tröstliches.

    Aber das gilt nicht für alle, nicht zwangsläufig, und das wiederum ist erleichternd. Keiner ist mehr gefangen, wenn er eben nicht in seinem Heimatdorf leben will, weil er sich dort fühlt wie das Klümpchen im Schokopudding. Es gibt Heimat nach Wahl, auch mehrere. »Ich habe immer das Problem, dass wenn ich von Heimat spreche, zwei oder drei Orte gleichzeitig in Frage kommen, die gemeint sein könnten«, sagte ein junger Student, den die Sozialpädagogin Wibke Raßbach interviewte. »Die Heimat meiner Kindheit ist immer in meinem Gedächtnis, aber jetzt bin ich auch auf der Suche nach einer Heimat, die ich mir selber ausgesucht und erschaffen habe.« 286
Hunderttausende suchen sich ein Umfeld, wo sie sich wohler fühlen als an ihrem Herkunftsort, weil sie dort Gleichgesinnte treffen. Millionen finden Heimat im Freundeskreis oder im Fußballverein oder in der Online-Community.

    Natürlich wird auch mir angst und bange, wenn ich höre, dass weltweit 80 Millionen Menschen auf Facebook bei FarmVille mitspielen, mit virtuellen Tomaten handeln und sich an virtuell sprießenden Erdbeeren ergötzen. Was sagt das über unsere atavistischen Buddelbedürfnisse in der postagrarischen Gesellschaft? Und überhaupt: Ist das nicht traurig? Nun ja: Es ist Realität. 80 Millionen Menschen finden Freude daran, vielleicht Entspannung zwischen dem Email-Terror und dem letzten Tweet, vielleicht aber auch: Heimat unter Freunden, denen sie ihre schon nicht mehr ganz frischen elektronischen Äpfel an den Gartenzaun hängen.

    Jetzt sind wir schon recht nah an der Beliebigkeit, natürlich. Wenn Heimat zwischen dem FC St. Pauli
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