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Heimat

Heimat

Titel: Heimat
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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und worin noch niemand war: Heimat.« 6

    Die Politik lässt sich, in Zeiten fortgeschrittener Entfremdung vom Wahlvolk, ein so emotionales Thema nicht entgehen. Im Wahlkampf kann eine konservative Kanzlerin beim »Tag der Heimat« des Bundes der Vertriebenen durchaus punkten. Was nicht bedeutet, dass ihre linken Mitstreiter diesen Boden unbeackert lassen. Allein 2009 veranstaltete neben den Grünen auch die SPD mehrere Konferenzen zum Thema. »Weil ich meine Heimat liebe«, gilt manchem Lokalpolitiker bereits als umfassende Erklärung seiner Motivation. Verkauft wird mit dem Klischee ebenfalls prächtig. Bier ist »ein guter Schluck aus der Heimat« und auch auf dem Milchkarton prangt ein: »Unsere Heimat - echt und gut.« 7

    Kurzum: Heimat ist in Deutschland überall, der Begriff ist allgegenwärtig, oft bis zur Unkenntlichkeit abgeschmirgelt und glatt gehobelt, platt und stumpf, weit weg von diesem tiefen Urbedürfnis. Die Folge ist ironischerweise, dass eine ganze Generation das Wort für sinnentleert und bedeutungslos hält und kaum noch in den Mund nimmt. Sie zieht sich auf Kunstbegriffe wie »Lebensmittelpunkt« zurück wie auf eine rettende Insel: emotionsarm, geschichtsfrei, unbescholten, ach. Und ist doch gekränkt, dass ihr das erdenschwere Original abhanden gekommen ist. Dieses Buch erklärt auch, wie beides zusammengeht und wieso gerade die Deutschen für diese schillernde Melange so empfänglich sind.

    Vor allem aber widmet es sich einem Widerspruch, der in den Sonntagsreden und philosophischen Debatten untergegangen ist. Während die Deutschen um ihr Lieblingsthema immer neue Pirouetten drehen, den Zwang zur Heimatverleugnung durch linke Political Correctness geißeln, das »Verschwinden der Heimat« beklagen und in bittersüßem Kulturpessimismus schwelgen, 8 türmen sich in diesem Land 20 Jahre nach der Vereinigung ganz reale Probleme.

    15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben hier. Mehr als eine Million Menschen ziehen jedes Jahr nach Deutschland oder von hier weg - Deutsche, Ausländer, Menschen zwischen den Welten. Es ist ein stetes Abreisen und Ankommen, und alle werden zurückgeworfen auf die Frage nach Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Für Menschen ausländischer Herkunft, die die alten Wurzeln längst gekappt haben und die neuen nicht geschlagen, stellen sich dieselben
urdeutschen Fragen: Heimat, wo ist das eigentlich? Wo darf ich sein, wo gehöre ich hin? Nur interessiert sich die heimatbeflissene Mehrheitsbevölkerung kaum dafür. Nach einem halben Jahrhundert Migration ohne Immigration heißt es nun plötzlich, hopp, hopp, gliedert euch ein. Warum gehört ihr nicht endlich dazu? Warum seid ihr so fremd, wo wir es doch bitteschön heimelig haben wollen und gemütlich in diesem neuen großen deutschen Haus. Auch diese Geschichte erzählt dieses Buch: Die überhöhte Heimat Deutschland ist für Millionen Menschen fast unerreichbar.

    Doch ist das nicht die einzige emotionale Baustelle. Während die eine Hälfte Deutschlands nach dem Untergang der DDR kaum eine Veränderung gegenüber der alten Bundesrepublik zur Kenntnis nehmen will, beklagt die andere den Totalverlust jedweder Vertrautheit. Wehmütig beschrieb die ehemalige Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley nach ihrer Rückkehr aus Kroatien, wo sie zwölf Jahre gelebt hat, wie fremd ihr altes Wohnquartier im Ostberliner Szene-Viertel Prenzlauer Berg geworden sei. »Ich trauere nicht den kaputten Fassaden hinterher, aber dem verschwundenen Lebensgefühl«, sagte die 63-Jährige Anfang 2009. 9 »Mir fehlt unser Klempner, die Frau, die die Tauben gefüttert hat, oder meine Verkäuferin.« Heute gebe es im Prenzlauer Berg keine alten Menschen mehr, nur noch Mütter Anfang 40, die ihr erstes Kind spazieren fahren, und jedes zweite Geschäft sei ein Bio-Laden. »Da möchte man schon aus Protest ein Schweineschnitzel aus Markkleeberg verlangen«, witzelte Bohley.

    »Wir sind emigriert, ohne auszuwandern«, bekannte eine Ostberlinerin, die der Schriftsteller Klaus Pohl interviewte. 10 Und die junge Autorin Jana Kellermann, 1977 in der DDR geboren, findet, das geeinte Deutschland habe zu plötzlich ihre alte Heimat ersetzt. »Ich hatte keine Chance, mich von ihr zu verabschieden. Es ist eine Sache, seine Heimat zu verlassen. Eine andere, wenn das Geburtsland plötzlich weg ist, man selbst aber noch da ist.« 11 Ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung hat also gerade eine traumatische Entwurzelung durchlebt. Ohne Verpflanzung
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