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Heimat

Heimat

Titel: Heimat
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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schreiben die Autoren: »Für 50,5 Prozent der Bevölkerung ist heute nämlich die Heimatregion bereits wichtiger als das Vaterland, wahrscheinlich weil der konkret verortete Lebensmittelpunkt im Gegensatz zur verinnerlichten nationalen Identität deutlich greifbarere Anknüpfungspunkte zur Identitätsbildung bietet. Die Heimat, die Region ist tagtäglich persönlich erfahrbar, sichtbar und Ort des realen Lebens.« In der Heimat sei die deutsche Seele zuhause, meinen die Autoren. 21

2. »Wie ist das schön hier«: Von der unerklärlichen Bindung an das Zuhause der Kindheit
    Für Ingrid Hauer ist es der morgendliche Spaziergang. Das Gefühl, sich die Hundeleine umzuhängen, die Tür ins Schloss zu ziehen und für eine halbe Stunde oder Stunde alles hinter sich zu lassen, die Kinder und die Scheidung, die Jobsuche und die Arbeit als Aushilfe in der Bäckerei des Großvaters. Nur durch die Feldmark zu streifen, übers flache Land zu schauen, das Grün der Wiesen einzusaugen. »Wenn ich mit dem Hund gehe, denke ich mir jedes Mal: Ach, ist das schön hier«, sagt sie. »Das kann regnen, das stört mich überhaupt nicht. Aber, wie schön ist das hier.« 22

    Das ist eigentlich alles. Eine andere Erklärung hat die 45-Jährige nicht dafür, dass auch sie ihr ganzes Leben in Westen verbracht hat, jenem Dorf, um dessen Zukunft als Heimat Ulrike Kraul so erbittert kämpft. Ingrid hat damit nie etwas zu tun gehabt. Vereine und Vereinsmeierei, die ganze organisierte Heimatverbundenheit, all das hat sie nie interessiert. Es geht um etwas viel Unmittelbareres. »Ich habe mich immer schon hier wohl gefühlt«, sagt sie schlicht.

    Nie hat sie etwas weg gezogen. Nie würde sie auch nur ins Nachbardorf abwandern. Wenn sie einen neuen Partner kennenlernen würde, dann vielleicht. »Aber sonst gibt es eigentlich keinen Grund, hier wegzuziehen. Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt in einer Großstadt, in einer Dreizimmerwohnung zu leben. Irgendwie brauche ich dann doch mehr Platz.« Selbst auf Reisen will sie nach ein paar Tagen wieder nach Hause. »Ein bisschen was habe ich schon auch von der Welt gesehen, so ist das nicht«, verteidigt sie sich. In London war sie, Amsterdam, München, sogar in Kenia, bevor die Kinder geboren wurden. Mit der Familie machte sie oft Ferien auf Fehmarn, zwei, drei Autostunden entfernt. Sie liebt die See, das Rauschen, das Suchen nach Steinen und Fossilien am Strand. »Aber nach ein paar Tagen reicht es dann auch«, bekennt Ingrid. Gerade hat sie eine Fortbildung in Bremen gemacht, eine ganze Woche lang. »Wenn man die Stadt sieht, das ist schon alles interessant.« Es klingt wie ein Zugeständnis. »Aber wenn man rauskommt und sieht die grünen Wiesen - das ist einfach schön.«

    Ingrid entspricht so gar nicht der Vision einer Landpomeranze. Mit ihren Shorts und den Trekking-Sandalen, der sonnengebräunten Haut könnte die drahtige, jugendliche Frau auch als Animateurin in einem Ferienclub auf Kreta durchgehen oder als Anwärterin auf den Boston Marathon. Sie hat etwas Abgeklärtes, etwas heiter Gelassenes trotz der Trennung von ihrem Mann im vergangenen Jahr und des mühevollen Neubeginns im Beruf nach all den Jahren als Vollzeitmutter ihrer nun 16, zwölf und neun Jahre alten Kinder. »Es fügt sich immer alles so zu einem Guten«, das ist ihr Fazit der letzten Monate. »Das finde ich spannend. Es geht immer weiter.«

    Tatsächlich hat sie den Neuanfang als alleinerziehende Mutter eben doch geschafft, und auch das hat aus ihrer Sicht eine Menge zu tun mit dem Leben in ihrem Dorf. Als Jugendliche hat sie eine Ausbildung als Werkzeugmacherin abgeschlossen, in einem Kunststoffwerk im Nachbardorf. Dann sattelte sie noch eine Kaufmannslehre drauf, übrigens auch, ohne je von Westen weg zu ziehen. Aber nach 16 Jahren zu Hause war das natürlich kaum noch etwas wert, die Erfahrung von damals völlig veraltet.

    Trotzdem fragte sie in der Firma eines Nachbarn. »Ich sag: Hartmut, haste Arbeit für mich? Und dann habe ich in der Werkstatt angefangen.« Wegen der Rezession verlor sie den Job nach ein paar Monaten wieder. Doch noch am selben Tag ging sie ein Haus weiter, ebenfalls ein alter Bekannter. Sie bewarb sich auf eine Stelle, für die ihr eigentlich die Ausbildung fehlte. Aber den CAD-Kurs machte sie eben nach, und schon hatte sie die Zusage. »Alles nur, weil man sich kennt. Ich denke, das wäre mir woanders nicht passiert.«

    Und so finden sich eben doch ein paar Gründe, warum Ingrid hier so fest
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