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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt
Autoren: G Pauly
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Geburtstag war. Das Mädchen konnte nichts für das Unglück, das ihrer Mutter widerfahren war.
    Geesche wandte sich ab und schob den Tisch aus der Mitte des Raums zurück vor das Fenster. Dort hatte er seinen Platz, in den Raum gerückt und mit Stühlen umstellt wurde er nur für die Mahlzeiten. Und da seit zwei Wochen ein Sommerfrischler in ihrem Hause wohnte, musste alles so zugehen, wie es sich für einen Gast gehörte. Dr. Leonard Nissen frühstückte jeden Morgen in Geesches Küche und gab sich mit Getreidegrütze, Brot und Tee zufrieden. Geesche wusste, dass er in Hamburg, wo er lebte, an Luxus gewöhnt war. Und sie wusste auch, dass man in den beiden Logierhäusern Westerlands, der »Dünenhalle« und dem »Strandhotel«, auf die besonderen Bedürfnisse wohlhabender Sommerfrischler Rücksicht nahm. Aber Dr. Nissen betonte immer wieder, dass er sich in Geesches Küche wohlfühle und froh sei, die erste Mahlzeit des Tages mit ihr zusammen einnehmen zu dürfen.
    Sie ging in den Pesel, wie der größte und schönste Raum eines friesischen Wohnhauses hieß, der nur zu besonderen Anlässenbenutzt wurde. Er war mit Decken- und Wandmalereien versehen und mit wertvollen Einrichtungsstücken ausgestattet, die Geesches Vater mitgebracht hatte, wenn er aus fernen Ländern zurückgekehrt war. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr war er zur See gefahren und manchmal zwei oder drei Jahre weggeblieben. Wenn er dann endlich zurückkehrte, hatte er immer kostbare Geschenke im Gepäck gehabt.
    Die Möbel und das Geschirr, das im Vitrinenschrank stand, hatte er aus England nach Sylt gebracht, die hohen, strengen Stühle aus Spanien, den kupfernen Samowar aus Russland. Geesche hatte ihn erst ein einziges Mal benutzt. Das war nach der Beerdigung ihrer Mutter gewesen, als sich die Nachbarn im Pesel versammelt hatten, um zu kondolieren. Damals hatte sie feierlich Wasser in den Kessel des Samowars gefüllt. Es wurde durch ein innenliegendes Rohr, das heiße Asche enthielt, erhitzt und heiß gehalten. In einen kleinen Kessel hatte sie die Teeblätter gegeben, sie vorziehen lassen und den Sud in die Tassen gegeben. Mit dem heißen Wasser aus dem Samowar war er dann aufgegossen worden. Die Nachbarn hatten gestaunt und behauptet, noch nie einen so guten Tee getrunken zu haben.
    Ihre Mutter war sehr stolz auf den Samowar gewesen, und Geesche nahm sich oft vor, ihn in Gebrauch zu nehmen, wenn Sommerfrischler in ihrem Hause logierten. Aber dann hatte sie ihn doch im Pesel stehen lassen, damit der schönste Raum so schön blieb, wie er war. Und ohne den Samowar wäre er ein Stück ärmer geworden.
    Kalt war es hier, nicht viel wärmer als im Winter. Der Pesel lag nach Osten und war nicht zu beheizen. Für den Fall, dass er im Winter benutzt wurde, gab es einen Fußwärmer, der mit glühenden Kohlen gefüllt und unter den Tisch gestellt wurde. In dicke Mäntel und Jacken gehüllt saßen die Gäste dann um den Tisch herum, und jeder versuchte, mit den Füßen ein Plätzchen auf dem Fußwärmer zu ergattern.
    Geesche beeilte sich, den Deckel der großen Truhe zu öffnen,die unter dem Fenster stand. Es war die Seemannstruhe ihres Vaters, grau gestrichen und segeltuchbespannt, die er auf allen Seereisen mitgeführt hatte. Jetzt diente sie der Aufbewahrung einiger Kostbarkeiten und wurde mit Kissen belegt, wenn die Stühle und das ripsbezogene Sofa für Gäste nicht ausreichten. Geesche langte mit geschlossenen Augen in die Truhe, so, als wollte sie nicht sehen, was sich dort verbarg. Ihre Finger schoben sich unter das Leinen, das sie dort aufbewahrte, unter die Spitzendecken, die ihr Vater aus Brüssel mitgebracht hatte, dann ertasteten sie tief unten die Münzen. Geesche zog eine heraus und schob sie in die Tasche ihrer Schürze. Danach schloss sie den Deckel der Truhe wieder.
    Die Holzdielen knarrten, als sie den Pesel verließ und in die Küche zurückging. Dort gab es nur einen Lehmboden, so dass sie unbekümmert in der Glut der Feuerstelle stochern konnte. Sie blieb davor stehen und starrte den Kessel an, der über dem Feuer hing, bis er zu summen begann, und sie spürte, dass die Wärme zunahm.
    Gut, dass Dr. Nissen das Haus verlassen hatte! Dies war der Tag, an dem Geesche am liebsten allein blieb. Doch das würde erst möglich sein, wenn Hanna sich ihr Geldstück abgeholt hatte, das sie an jedem Geburtstag erhielt, und Freda mit ihrer Arbeit fertig war. Seit dem Tag, an dem Hanna geboren und Jens Boyken auf See sein Leben gelassen hatte,
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