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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt
Autoren: G Pauly
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liebevolle Nachsicht verschwand allmählich aus Fredas Gesicht. Verspielte Ebbo die einzige Stetigkeit, die es seit Jens’ Tod in ihrem Leben gab? Worauf sie sich seit Hannas Geburt verlassen konnte, war die Loyalität des Grafen von Zederlitz. Seine Tochter war in derselben Stunde im selben Haus zur Welt gekommen wie Hanna, er hatte ihren ersten Schrei gehört, hatte sie sogar im Arm gehalten, wie Freda später von Geesche erfahren hatte. Dadurch war eine Verbindung zur gräflichen Familie entstanden, die für Freda so kostbar war wie sonst nichts auf der Welt. War der Graf auch zunächst ärgerlich gewesen, als er begreifen musste, dass seiner Frau nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit der Hebamme sicher war, hatte er Freda zwei Tage später, als Jens’ Leiche an den Strand gespült worden war, sogar kondoliert und ein Geldgeschenk überbringen lassen, das ihr für mehrere Wochen ein Auskommen sicherte. Dafür würde sie ihm ewig dankbar sein. Auch für jedes Lächeln, das er Hanna später schenkte, wenn sie ihm zufällig begegneten, schuldete sie ihm Dankbarkeit, und für jedes freundliche Wort. Es gab nur wenige Menschen auf der Insel, die Hanna wohlwollend anblickten und freundlich mit ihr redeten.
    Und dann, als Hanna vierzehn geworden war, hatte er sie sogar in seine Dienste genommen. Da war Freda schon sicher gewesen, dass Hanna niemals zum Lebensunterhalt würde beitragen können. Den ganzen Sommer lang, während die Familie von Zederlitz auf Sylt war, durfte Hanna in dem großen Haus, das der Graf in der Nähe der Dünen hatte bauen lassen, arbeiten, obwohl sie sich nur langsam voranbewegte, nicht stark war und auch nicht besonders geschickt. Nicht einmal fleißig und willig war sie und freundlich nur, wenn sie damit rechnete, dass es sich auszahlte. Trotzdem war Hanna im letzten Sommer sogar zur Gesellschafterin der Grafentochter gemacht worden. Die junge Comtesse durfte selbstverständlich nicht allein das Haus verlassen, heiratsfähige junge Damen von Stand hatten sich außerhalb der Familie in Gesellschaft aufzuhalten, und zwar in der Gesellschaft, die ihre Eltern für sie aussuchten.
    Als Graf Arndt von Zederlitz diese Aufgabe Hanna Boyken übertrug, hatte Freda ihr Glück kaum fassen können. Welche Ehre! Welch ein Vertrauensbeweis! Schade nur, dass auch dieses Glück mit Sorge besetzt war. Würde Hanna gewissenhaft ihre Pflicht erfüllen? Würde sie gehorchen und höflich lächeln, wenn sie einen Auftrag erhielt? Und würde sie diskret sein und ihre Zunge hüten? Es gab viele Sylter, die sich nicht auszumalen vermochten, wie es in dem großen Haus vor den Dünen zuging, und Hanna bedrängten. Sie wollten etwas erfahren von dem Leben, das Menschen führten, die sich für ihr tägliches Brot nicht anstrengen mussten. Und Hanna gehörte leider zu denen, die jede Gelegenheit nutzten, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ob sie wusste, welche Chance der Graf ihr einräumte? Freda seufzte schwer. Und ob Ebbo klar war, was er anrichtete, wenn er Elisa von Zederlitz schöne Augen machte?
    Sie schloss die Tür ihrer Kate und machte sich auf den Weg zum Haus der Hebamme. Der Wind trieb das Stampfen und Pfeifen der Inselbahn herüber. Noch im letzten Jahr waren derGraf und seine Familie mit Pferdgespannen vom Munkmarscher Fähranleger nach Westerland gebracht worden. Eine gute Stunde hatte dieser Transport gedauert, und nun, mit der Inselbahn, ging er in zwölf Minuten vonstatten. Dr. Julius Pollacsek, der seit vier Jahren Besitzer des Seebades Westerland war, hatte angekündigt, der Ort würde aufblühen, der Strand von Sylt demnächst voll von Fremden sein, die auf der Insel Erholung suchten und viel Geld bringen würden.
    Freda schüttelte verächtlich den Kopf. Selbst wenn Dr. Pollacsek recht hatte, ihr eigenes Leben würde sich dadurch nicht ändern. Wer vom Fremdenverkehr profitieren wollte, brauchte ein Haus, in dem Platz genug war, um ein Zimmer an Feriengäste zu vermieten. In ihrer Kate war gerade mal Platz für sie selbst und für Ebbo und Hanna. Freda konnte froh sein, wenn Geesche die drei Zimmer, die sie mittlerweile in ihrem Haus hergerichtet hatte, im Sommer vermietete und ihre Hilfe brauchte, damit die Gäste anständig versorgt wurden. Das waren die paar Krümel, die für Freda Boyken abfielen, wenn alles tatsächlich so kommen würde, wie Dr. Pollacsek behauptete. Aber sie wollte damit zufrieden sein. Wenn sie diese Arbeit behielt, wenn Hanna im Sommer bei dem Grafen etwas Geld verdienen
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