Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt
Autoren: G Pauly
Vom Netzwerk:
konnte, wenn Ebbo die richtige Frau heimbrachte, die vergaß, dass Freda nicht seine leibliche Mutter war und sich verpflichtet fühlte, wie es sich für eine gute Schwiegertochter gehörte … dann würde sie nicht klagen. Vielleicht konnte sie sich eines Tages auf eine Bank setzen, die Sonne genießen und sich vom Leben ausruhen.
    Der Weg zu Geesche Jensens Haus führte am großen Kurhaus, dem sogenannten Conversationshaus, vorbei. Es stellte den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in Westerland dar und war vollständig aus Holz erbaut, mit einem hohen spitzen Turm in der Mitte des Gebäudes, direkt über dem Eingang, und einer Turmuhr, die jede Stunde schlug. Eine große Veranda stand den vornehmen Kurgästen zur Verfügung, aufder sie sich bei gutem Wetter trafen, um sich zu unterhalten oder um Zeitung zu lesen. Sogar einen Konzertsaal hatte das Conversationshaus, in dem die Kurkapelle wöchentlich sechs Konzerte gab.
    Es wimmelte dort von Neugierigen, die der Ankunft neuer Feriengäste entgegensahen. Vor allem die Kinder tummelten sich dort, die sich an der zischenden und pfeifenden Lokomotive nicht sattsehen konnten. Erst im vergangenen Sommer war die Inselbahn in Betrieb genommen worden. Im Winter hatte sie stillgestanden, denn gebraucht wurde sie selbstverständlich nur, wenn die Sylter Dampfschifffahrtsgesellschaft mit ihren Raddampfern Feriengäste brachte. Nun kamen wieder Fremde in Munkmarsch an, die nach Westerland transportiert werden wollten. Aber bis der Anblick der Inselbahn zum Alltag gehören würde, mussten wohl noch viele Züge durch die Heide fahren und noch viele Sommergäste ankommen. Bis dahin zog die Bahnstation Schaulustige an, die all das Fremde bestaunten, die fremde Kleidung, die fremden Gepäckstücke, das fremde Gebaren der Gäste. Daneben warteten junge Männer, die sich als Gepäckträger verdingen wollten, verächtlich betrachtet von denen, die dunkle Uniformen trugen und Holzkarren neben sich stehen hatten, auf denen »Dünenhof« oder »Strandhotel« stand. Sie nannten sich neuerdings Pagen und waren losgeschickt worden, um das Gepäck der Hotelgäste zu befördern, die in den beiden Logierhäusern der Insel erwartet wurden.
    Freda blieb stehen und betrachtete das bunte Treiben. Tatsächlich schienen in diesem Jahr mehr Feriengäste erwartet zu werden als im vergangenen. Ganz so, wie Dr. Pollacsek es vorausgesagt hatte. Nur wenige hatten ihm Glauben schenken wollen, und es hatte viele Jahre gedauert, bis er so viel Geld beschafft hatte, dass die Trasse und die Gleise von Munkmarsch nach Westerland fertiggestellt werden konnten. Dann waren wiederum zwei Jahre über die Insel gezogen, bis der erste Zug seine Jungfernfahrt antreten konnte. Unter großem Jubel wardie Inselbahn eingeweiht und in Betrieb genommen worden. Dr. Pollacsek schien ein gemachter Mann zu sein. Es war sogar die Rede davon, dass er Gleise über die ganze Insel legen lassen wollte, von Norden nach Süden und von Osten nach Westen. Und Freda war sicher, diesmal würde man sich ihm nicht in den Weg stellen. Die meisten Sylter hatten eingesehen, dass Dr. Pollacsek gut für die Zukunft der Insel war. Mit dem Bahnhofsgebäude, das in den nächsten Monaten entstehen sollte, würde jedermann einverstanden sein.
    Der gebürtige Budapester war ein ungewöhnlicher Mann von großer Vielseitigkeit, der über gute Kontakte verfügte, der viele Talente besaß und keine Mühen scheute, wenn er eine Vision verfolgte. Man sah ihn nie anders als in einem korrekten schwarzen Anzug mit Weste, die eine dicke Uhrkette schmückte. Er war klein und untersetzt mit kräftiger Muskulatur, sein Schnauzer immer säuberlich gestutzt. Er hielt sich aufrecht wie jemand, der um sein äußeres Erscheinungsbild bemüht war.
    Dr. Leonard Nissen, der bei Geesche Jensen logierte, schien mit ihm bekannt zu sein. Auch er trug einen schwarzen Anzug mit Weste, dazu ein weißes Hemd mit einem steifen Stehkragen, der ihm bis zur Kinnspitze reichte. Seine schwarzen Stiefeletten polierte er jeden Morgen selbst, obwohl Geesche ihm angeboten hatte, diese Arbeit für ihn zu übernehmen, ebenso den eleganten schwarzen Stock aus glänzendem Zedernholz, mit dem er nicht zufrieden war, wenn Sand an ihm haftete. Seinen Griff umfasste er nie mit fester Hand, sondern immer spielerisch mit zwei oder drei Fingern. Er ließ ihn schweben, schwanken, tanzen oder wippen. Manchmal trug er ihn auch quer vor dem Körper oder legte ihn über die Schulter wie ein Gewehr.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher