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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt
Autoren: G Pauly
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Augenwinkeln. »Ich habe gehört, wie Dr. Pollacsek mit Dr. Nissen darüber gesprochen hat. Er plant schon den nächsten Bauabschnitt der Inselbahn. Von Hörnum nach Westerland! Dafür braucht er Marinus Rodenberg.«
     
    Freda Boyken war nach der Geburt ihrer Tochter immer schmaler und kleiner geworden, ihr Gesicht ähnelte immer mehr dem eines verängstigten Vogels. Die beiden dunklen Kleider aus Sackleinen, die sie besaß, waren ihr mittlerweile viel zu groß, die grobe Schürze, die sie darüber trug, ließ sich so weit über den Rock binden, dass sie nicht im Rücken, sondern über dem Bauch geknotet wurde. Wann immer sie das Haus verließ, wickelte sie sich ein Tuch um den Kopf, das locker über der Brust zusammengebunden wurde. Wenn die Frauen im Sommer aufs Feld gingen, trugen alle so ein Tuch, um sich vor der Sonne zu schützen, Freda Boyken dagegen band es sich sommers wie winters über den Kopf. Ihr Gesicht war somit stets überschattet. Nur die Nase stach hervor, in dem fliehenden Kinn schien ihr Mund zu verschwinden, und ihre schönen großen Augen blinzelten so ängstlich unter dem Tuch hervor, dass sie einen großen Teil ihres eigentlich hübschen Äußeren damit einbüßte. Freda Boyken ging stets gebeugt, obwohl sie gerade erst vierzig geworden war, so, als drückte sie die Sorge nieder, als beugte sie sich unter einer schweren Last, als zehrte das Leben an ihr, statt ihr Kraft zu geben. Vielleicht hätte sie diese Kraft bekommen, wenn ihr Mann am Leben geblieben wäre, wenn damit wenigstens ihr Lebensunterhalt sicherer gewesen wäre und er das Leid mit ihr geteilt hätte. Oft allerdings, wenn sie Hanna betrachtete, ihre verkrüppelte Hüfte, ihr kraftloses rechtes Bein, dann war sie zufrieden damit, dass Jens seineTochter nie gesehen hatte. Ob er dieses Kind hätte lieben können, wusste Freda nicht zu sagen. Ihr selbst fiel es ja sogar manchmal schwer.
    Sie strich Ebbo sanft übers Haar, als sie sich vom Tisch erhob. »Wolltest du heute nicht die Netze flicken?«
    Ebbo schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. »Das hat Zeit bis morgen. Ich habe sowieso keinen Fischer gefunden, der mich heute mit hinausnimmt.«
    Freda betrachtete ihn. Ihre Augen waren voller Zärtlichkeit, um ihren Mund spielte ein verständnisvolles Lächeln. Sie wusste nicht, wie liebevoll ihr Blick war, wenn sie Ebbo ansah, so fragte sie sich auch nie, ob Hanna bemerkte, dass es in Fredas Augen nur Hoffnung gab, wenn ihr Blick auf Ebbo ruhte, und dass sie verschwand, sobald sie ihre Tochter ansah.
    Obwohl sie von ihm nichts erwarten durfte, lag ihre ganze Hoffnung auf Ebbo. Ein guter Sohn musste für seine Mutter sorgen, wenn sie alt, schwach und krank geworden war, und für seine verkrüppelte Schwester ebenso. Nur … Ebbo war nicht ihr Sohn. Nicht einmal der Sohn ihres Mannes. Jens war in erster Ehe mit einer Witwe verheiratet gewesen, die Ebbo mit in die Ehe gebracht hatte. Schon im ersten Winter nach der Hochzeit war die Frau an einer Lungenentzündung gestorben und der verwaiste Ebbo bei seinem Stiefvater geblieben. Als der vor genau sechzehn Jahren in der verhängnisvollen Sturmnacht nicht zurückgekehrt war, wurde Ebbo Fredas Sohn, den sie liebte, als hätte sie ihn selbst zur Welt gebracht. Ein schöner, starker, rechtschaffener Sohn, wie sie ihn sich gewünscht hatte, als sie an der Tür der Hebamme klopfte, um ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Doch sie war mit einer verkrüppelten Tochter im Arm nach Hause zurückgekehrt …
    »Du willst zur Inselbahn?«, fragte sie aufs Geratewohl und wusste sofort, dass sie recht hatte, als sie sah, wie die Röte in Ebbos Wangen schoss. »Der Dampfer dürfte schon in Munkmarsch angelegt haben. Die Inselbahn wird bald ankommen.«
    Ebbo nickte. »Dort werden immer Gepäckträger gebraucht.«
    Freda schüttelte den Kopf. Ebbo wollte ihr weismachen, dass er zum Bahnhof ging, um nach einem Nebenverdienst Ausschau zu halten? »Sie ist die Tochter eines Grafen«, sagte sie. »Das kann nicht gutgehen. Warum suchst du dir nicht ein Mädchen, das zu dir passt?«
    »Lass mich, Mutter«, entgegnete Ebbo und erhob sich ebenfalls. »Ich bin alt genug!«
    Freda sah ihm durch das kleine, fast blinde Fenster nach, als er mit schnellen Schritten davonlief, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Hände in die Hosentaschen gebohrt. Ein großer, kräftiger Mann von dreiundzwanzig Jahren, mit einem markanten Gesicht und hellen Augen, die alles Kantige in seinen Zügen weichzeichneten.
    Die
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