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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt
Autoren: G Pauly
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kommen.
    »Was ist das für eine Arbeit!«, klagte Andrees oft. »Ich tu was Sinnloses, nur um nicht zu verhungern. In zwanzig Jahren wird niemand mehr wissen, warum etwas so Überflüssiges wie diese Eisenbahntrasse gebaut wurde. Eine Inselbahn? Sinnlos! Alles sinnlos!«
    Jedes Mal, wenn er das sagte, hatte Geesche Angst, dass er bald auch keinen Sinn mehr darin sehen könnte, sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr auszumalen. Manchmal fürchtete sie sogar, dass er in seiner eigenen Zukunft keinen Sinn mehr sah. Was sollte geschehen, wenn er den Sinn des Lebens aus den Augen verlor?
    Sie riss sich vom Fenster los, verließ die Küche und trat auf den Flur, der das Haus in Wohn- und Wirtschaftsteil gliederte, wie es in friesischen Häusern üblich war. Aber Geesche hatte diese Aufteilung verändert. Aus der Kammer des Wirtschaftsteils hatte sie den Raum gemacht, in dem die Frauen gebären konnten, die bei ihr, der einzigen Hebamme der Insel, Hilfesuchten; aus der Dreschtenne sollte demnächst ein Raum werden, der an Sommerfrischler zu vermieten war. Immer mehr kamen nach Sylt, manche blieben sogar den ganzen Sommer. Und wenn die Inselbahn zwischen dem Fährhafen Munkmarsch und Westerland wirklich einmal fahren sollte, würden es noch mehr werden. Vielleicht konnte sie dann auch den Stall umbauen, der an der Westseite die ganze Tiefe des Hauses einnahm. Sommerfrischler brachten Geld auf die Insel, und Geesche brauchte Geld, damit Andrees sich sein eigenes Fischerboot kaufen konnte. Aber sie brauchte es bald. Bis die Inselbahn ihre erste Fahrt machte, würden noch viele Jahre vergehen. Wenn die Pläne von Dr. Pollacsek überhaupt in die Tat umzusetzen waren! Andrees glaubte nicht daran.
    Ein so gespenstisches Heulen fuhr unter der Eingangstür her, dass Geesche sich erschrocken an die Wand drängte. Wenn Andrees doch nur daran glauben könnte, dass es für Sylt eine neue Zukunft gab, wenn immer mehr Fremde auf die Insel kamen! Dr. Pollacsek behauptete, es kämen fette Jahre auf diejenigen zu, die Fremdenzimmer zu vermieten hatten. Und ihr Haus war groß genug dafür! Sie würden ihr Auskommen haben, wenn auch Andrees sich auf Dr. Pollacseks Ideen einließ.
    Aus dem Stall drang aufgeregtes Gackern, als der Wind einen schweren Eimer gegen die Stalltür schlug. Wie lange würde Andrees sein Unglück noch ertragen? So lange, bis sie den Stall zu Fremdenzimmern gemacht hatte? Geesche schüttelte den Kopf. Nein, so viel Zeit würde ihr das Schicksal wohl nicht lassen.
    Noch war der Stall in dem Zustand, in dem er gewesen war, als ihr Vater das Haus von seinen Eltern übernommen hatte. Zu seinen Lebzeiten waren dort Schweine und Federvieh gehalten worden. Als er starb und auch die Mutter bald das Zeitliche segnete, hatte Geesche sich entschlossen, die Schweine abzuschaffen. Nun hielt sie nur noch ein paar Hühner und Enten dort. Die Schafe, die sie außerdem besaß, kamen nicht in denStall, sie blieben bei jeder Wetterlage auf der Weide. Wenn sie den Hühnern und Enten einen Verschlag im Garten bauen ließ, würde sie in dem Stall ebenfalls Fremdenzimmer einrichten können.
    Geesche nahm die Petroleumlampe mit ins Gebärzimmer und leuchtete es aus. Ja, alles war an seinem Platz. Sollte Freda Boyken heute noch niederkommen, würde sie hier frische Laken vorfinden, einen sauberen Bottich für das Wasser, das Geesche auf der Feuerstelle ihrer Küche warmhielt, und alles, was für den Säugling gebraucht wurde, wenn er auf der Welt war. Auch Brot, Getreidegrütze und Bier hielt sie bereit, falls die Mutter nach der Geburt bereit war für eine Stärkung, wie Geesche sie gern empfahl.
    Sie ging zurück in den Flur, wo ein großes wollenes Tuch auf einem Haken hing. Das legte sie sich gerade um, als sie spürte, dass jemand auf das Haus zukam. Schritte waren nicht zu hören, dazu war das Fauchen und Heulen des Windes zu laut, aber dass der Kies knirschte, blieb Geesche dennoch nicht verborgen. Sie kannte die Geräusche der Insel, wusste jeden Ton zu deuten, den sie erlauschte. Schon wieder raschelte es im Kies. Andrees? Warum kam er leise und heimlich zu ihr? Oder schleppte er sich mühsam zu ihrer Tür? Ging es ihm schlecht? Noch schlechter? So schlecht, dass er es nicht mehr aushielt?
    Derart heftig stieß Geesche die Tür auf, als käme es auf jede Minute an. Als könnte Andrees im nächsten Augenblick noch zu retten sein und schon im übernächsten davon reden, dass er ins Watt gehen würde, weil das Leben keinen Sinn mehr hatte,
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