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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition)
Autoren: Jean Wiersch
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denen er mit Kevin hochzuklettern gedachte.
    »Wenn wir das Dach erreicht haben«, sagte er, »fangt ihr sofort an, die Laken miteinander zu verbinden. Und vergesst nicht, ganz unten die Teleskopstange einzufädeln. Noch Fragen?«
    Die Jungen schüttelten den Kopf.
    »Dann los. Kevin, bist du so weit?«
    Kevin, der sich die genoppten, schwarzen Handschuhe bereits angezogen hatte, hob die Hand, woraufhin Nepomuk die Armbrust in die Schulter zog und den Abzug nach hinten drückte. Sirrend flog der erste Pfeil auf das Dach des Doms zu Brandenburg an der Havel.

2
    Die Toskana hatte aus Andrea Manzetti einen Müßiggänger gemacht. Und das in kürzester Zeit sowie mit einfachsten Mitteln. Hoch über seinem Geburtsort San Gimignano schien nämlich auch im Winter die Sonne so intensiv, dass er auf dem Landgut seiner Mutter in einer Januarwoche mehr Sonnenstunden zählen konnte, als ihm das gewöhnlich während eines kompletten Wintermonats in Brandenburg gelang. Und dazu trockenen Rotwein vom Gut des Onkels. Was wollte die verwöhnte Seele mehr?
    Trotzdem war für Manzetti irgendwann der Tag gekommen, an dem sich so etwas wie Heimweh in seinem Herzen einnistete. Da war ihm die Leuchtkraft des strahlenden Himmelskörpers nicht mehr genug. Zum ganz großen Glück bedurfte es doch etwas mehr als Sonnenschein. Und so landeten sie schließlich im Juni wieder da, wo sie vor zehn Monaten abgefahren waren. In ihrer geliebten Mark Brandenburg.
    Die Frage, ob sie für immer in Italien bleiben oder doch zurückkehren sollten, hatte sich in den Wochen nach Ostern immer häufiger gestellt. Das lag nicht an etwaigen Sprachproblemen, denn beide Töchter waren, seit sie den Mund nicht mehr halten konnten, zweisprachig aufgewachsen. Und Kerstin Manzetti galt per se als Sprachtalent. Ihr genügten in aller Regel fünf Minuten des Zuhörens, um sich anschließend in jeder nur denkbaren Sprache der Welt mit einer Schuhverkäuferin unterhalten zu können.
    Aber die alte Signora Manzetti war nun mal keine Schuhverkäuferin, sondern eine richtige italienische Mamma , und als solche hatte sie von der ersten Minute an zwischen Sohn und Schwiegertochter gestanden. So war Kerstins Unwohlsein schließlich ausschlaggebend gewesen, ihr konstanter Wille, sich aus der erdrückenden Umarmung der Schwiegermutter zu befreien.
    Nun saß Manzetti seit drei Monaten wieder am Beetzsee und begann erneut, diesen Landstrich zu lieben. Das Wechselspiel zwischen hoch fliegenden Lerchen und Graugänsen, zwischen unglaublich schönen Seen und ausgedehnten Nadelwäldern. Alles erfreute ihn bis in den letzten Winkel seines Körpers. Ein Fleckchen Erde, an dem die Seele beruhigt baumeln durfte.
    Tief atmete er die klare Luft ein und schaute auf den See hinaus. An nichts wollte er momentan denken, nur unbeschwert lustwandeln, eine Hand in der Hosentasche, die andere um die warme Kaffeetasse gelegt. Seine Frau und die Töchter hatten ihn bereits vor knapp zwei Stunden verlassen, waren in die Stadt gefahren, um dort ihren täglichen Aufgaben nachzugehen. Er dagegen fühlte sich wie ein Vagabund auf einem etwas zu groß geratenen Grundstück.
    Er sah auf den wackelnden Hintern von Julius Cäsar, dem er brav folgte. Julius, wie Manzetti den getigerten Kater knapp nannte, war eine ganz spezielle Katze. In einem italienischen Palazzo groß geworden, glaubte er sich allen anderen Lebewesen auf eine gewisse Art und Weise überlegen. Er war ein attraktives Tier, das war überhaupt keine Frage, und er hatte sogar diesen italienischen Augenaufschlag. Aber in dem märkischen Dorf am Ufer des Beetzsees war ihm seine spätrömische Arroganz im Weg. Manzetti tat sich lange schwer damit, zu begreifen, warum Julius sich so anstellte.
    Auch die Kätzchen im Dorf waren aus Katersicht doch wohl kaum zu verachten. Vielleicht etwas fülliger als in der Toskana, aber nicht minder hübsch. Manzetti hatte gehofft, Julius stünde auf etwas rundere Formen, aber immer, wenn er ihn darauf ansprach, wandte sich der Kater beleidigt ab. Mit einem Blick, wie nur er ihn auflegen konnte, schlüpfte Julius anschließend durch die Hecke auf die benachbarte Pferdekoppel.
    »Geh doch!«, rief Manzetti ihm dann voller Verachtung hinterher, allerdings erst, wenn er sich sicher sein konnte, dass Julius ihn nicht mehr hörte.
    Auch jetzt zwängte der Kater seinen Körper zwischen Ginsterbusch und Zaun hindurch, entschwand Manzettis langweiliger Gegenwart und überließ Paul Gerhardt das Feld.
    »Morgen, Nachbar«,
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