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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition)
Autoren: Jean Wiersch
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nur fünf Minuten Zeit. Vergesst das nicht.«
    »Aber Kevin hat doch Recht«, warf Lucas ein. »Im Dommuseum liegt genug Zeugs, das wir prima unter die Leute bringen können.«
    »Nein, habe ich gesagt, und dabei bleibt es. Das Dommuseum ist alarmgesichert, und ehe wir da wieder raus sind, haben die Bullen uns am Arsch. Dafür gibt es dann kein Du, Du mehr vom Staatsanwalt, sondern mehrere Jahre Knast. Also, fünf Minuten nach dem Abseilen hinter der Mauer an der Brücke zum großen Parkplatz.«
    Lucas war mit der Antwort nicht zufrieden. Er wagte einen letzten Versuch. »Können wir nicht mal die große Truhe aufmachen?«, fragte er.
    Nepomuk schlug sich vor lauter Verzweiflung gegen die Stirn. So viel Blödheit konnte es doch auch in der Unterschicht nicht geben. »Ich habe euch ein Dutzend Mal erklärt, dass der Giebelschrein leer ist und nur noch da oben im Chor steht, um von den Leuten bewundert zu werden. Früher, vor sechshundert Jahren, diente er der Aufbewahrung liturgischer Gewänder. Früher, heute nicht mehr.«
    Auch wenn seine Jungs bestimmt nicht wussten, was liturgische Gewänder waren, hatten sie instinktiv begriffen, dass sich hinter dem unaussprechlichen Wort ein einfacher deutscher Begriff verbarg, nämlich kostbar, was so viel hieß wie teuer.
    Bis auf Kevin, mit dem er schon im Kindergarten über den Rasen gerannt war, hatte Nepomuk die Jungen erst vor gut einem halben Jahr kennengelernt. Sie hatten sich an der Wand getroffen, ihrem Übungsareal, das direkt hinter einem Teppichbodenmarkt lag. Kein schlechter Ort, denn da waren sie vor dem Zugriff der Polizei sicher. Und das war wichtig, denn die Bullen hatten ihre Aktivitäten seit einiger Zeit massiv verstärkt, waren ihnen bedenklich nahegekommen.
    Und da Nepomuk es immer wieder verstanden hatte, die Polizei ins Leere laufen zu lassen, hatten die Jungen schnell erkannt, dass in ihm das Zeug zum Anführer steckte. Sie also dank seiner grandiosen Pläne ganz groß rauskommen konnten, ohne immer wieder in der Polizeiwache zu landen. An Nepos Seite wollten sie ungetrübten Ruhm, Anerkennung und Respekt in der Szene genießen.
    »Los jetzt«, zischte er. »Haltet die Hand so hinter den Rücken, dass der Hintermann das leuchtende Ziffernblatt sehen kann, das muss ausreichen, um euch zu orientieren. Und dann folgt mir.«
    Nepomuk drehte sich um und ging behutsam den Mittelgang entlang. Vor dem Altar bog er nach links ab, betrat ganz vorsichtig die steinernen, abwärts führenden Stufen und zuckte immer dann zusammen, wenn einer der Jungen mit der Hüfte gegen einen Stuhl stieß oder etwas anderes zum Wackeln brachte. Blödheit war nun mal nicht therapierbar.
    Endlich wurde es etwas heller und ihre Schritte sicherer. Der Mond hatte sich durch ein kleines Wolkenloch gekämpft und beschien einen Winkel des Kreuzganges mit kaltem Licht. Wenig später, als sie den Kreuzgang passiert und den kleinen Innenhof erreicht hatten, sahen sie schließlich die Fenster der evangelischen Domgrundschule, neben der die Räume der alten Ritterakademie lagen.
    Nepomuk blieb stehen. Tiefe Ehrfurcht ergriff ihn. Dort oben, hinter den Fenstern der Akademie, hatte jede Fußbodendiele abenteuerliche Geschichten zu erzählen. Geschichten aus der Kindheit und Jugend von Männern, die später preußische Geschichte schreiben sollten. Etwa von Leopold, Fürst von Anhalt-Köthen, der später zu einem Förderer von Johann Sebastian Bach geworden war, oder von Friedrich Eberhard von Rochow, Junker und Pädagoge, oder auch von Otto Graf Lambsdorff. Sie alle hatten die 1704 gestiftete Ritterschule besucht, die dem Zwecke der Ausbildung und Erziehung des preußischen und pommerschen Adels diente.
    Nepomuk hob die Hand über den Kopf. Dann spähte er in den Innenhof und lauschte in die Stille. Die Luft schien rein. Der Wachmann würde frühestens in zwei Stunden wiederkommen und nichts anderes vorfinden, als gestern, vorgestern und in der letzten Woche. Auf Nepomuk und seine Crew würde nicht einmal ein achtlos weggeworfener Zigarettenstummel hindeuten.
    »Die Seile«, forderte er und sah in das vom Mond schwach beschienene Gesicht von Lucas.
    »Hier«, sagte der und ließ den Rucksack über die Schulter rutschen.
    »Gut«, kam es von Nepomuk, der seinerseits den Rucksack auf den Boden gestellt hatte und bereits damit beschäftigt war, die Armbrust zusammenzubauen. Damit wollte er die Widerhaken abschießen, an denen die dünnen, extrem reißfesten Synthetikseile befestigt waren, an
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