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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition)
Autoren: Jean Wiersch
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ich«, entgegnete Paul und spuckte die Schalen der Sonnenblumenkerne ins Gras. »Aber wenn ich warte, bis sie hier auftauchen, haben sich die Wespen schon die ganze Ernte geholt. Und das kann ich mir nicht erlauben. Also komm, ich reiche da oben nicht ran.« Paul zeigte in die Krone des Baumes, in die er bereits eine blitzende Metallleiter geschoben hatte. »Mach du das mal, Nachbar. Du bist noch jung und hast eine viel größere Reichweite als ich.«
    »Paul, kann das nicht wirklich bis heute Nachmittag warten?«
    Das konnte es offenbar nicht. Paul drückte Manzetti seine Faust in den Rücken und bugsierte ihn sanft an den Stamm des Baumes.
    »Kriege ich wenigstens welche ab?«, fragte er und stellte seine leere Tasse an das Vorderrad des Handwagens, mit dem Paul Gerhardt wohl gedachte, die Ernte des Tages zur Mosterei zu ziehen.
    »Ja, ja. Aber jetzt erntest du erst mal den Baum ab. Und wirf die Birnen nicht so. Die kriegen sonst Druckstellen.«
    Gut eine Stunde später hatte Manzetti fast vier Säcke voller Birnen vom Baum geholt und jedes Mal ein freundliches Lächeln mitgeerntet. Am Ende der Arbeit zeigte sich der alte Ganove für seine Verhältnisse dann sogar recht großzügig und drückte Manzetti zwei mittelgroße Birnen in die Hand.
    »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Zwei Birnen für eine Stunde Schufterei?«
    »Nachbar, ich will doch nicht, dass du dir den Magen verdirbst.«
    Aus Mangel an Schlagfertigkeit ließ Manzetti die Bemerkung so stehen und war froh, wieder durch den Bretterzaun schlüpfen zu können. Als er seinen Rücken gerade wieder durchbog, erkannte er hinter den grünen Zweigen der Tannen bereits den nächsten Störenfried. Vor dem Grundstück bremste ein dunkelblauer Passat und erzeugte dabei eine riesige Staubwolke. Das Kennzeichen wies den Wagen als ziviles Polizeifahrzeug aus, am Steuer saß Sonja Brinkmann, seine Assistentin.
    »Auch wenn du es hier am Beetzsee wunderschön hast, in der Stadt wartet Arbeit«, rief Sonja über das Wagendach und warf schwungvoll die Tür zu. »Wir müssen sofort los, der Alte tobt schon.«
    Mit dem Alten meinte sie in aller Regel Polizeidirektor Ole Claasen. Manzetti sah auf die Uhr, es war gerade halb neun.
    »Was hat ihm denn den Morgen verhagelt?«
    »Eigentlich nichts«, sagte Sonja.
    Manzetti wusste, dass nichts bei Sonja nicht das Gleiche war wie bei ihm. Für nichts hätte Claasen sie nicht nach Ketzür geschickt, um ihn persönlich abzuholen.
    »Na gut«, sagte er. »Für nichts müssen wir uns ja nicht so beeilen. Ich gehe dann erst mal unter die Dusche und danach trinken wir noch einen Kaffee zusammen.«
    »Andrea, er hat ausdrücklich gesagt: Sofort!«
    »Aber wegen nichts?«
    »Nun stell dich doch nicht so an und dreh mir nicht schon jetzt jedes Wort im Mund herum.«
    »Das mach ich doch gar nicht. Du sollst nur einfach die Fakten benennen. Über deine Einschätzung der Dinge können wir uns dann später unterhalten … Also, wie dringend ist es wirklich?«
    »Sehr«, behauptete Sonja, kam um den Passat herum und öffnete die Beifahrertür. »Am Dom hat sich schon die komplette Presse versammelt. Der Alte soll bereits schreien.«
    Manzetti zuckte mit den Schultern. »Dann müssen wir wohl«, sagte er und drehte sein linkes Ohr der Ortschaft Lünow zu. »Ist der für uns?«
    »Wer?«
    »Der Habicht.«
    Dann hörte auch sie das schneidende Geräusch eines schnell heranfliegenden Hubschraubers.
    »Jupp«, sagte sie. »Der ist für uns. Komm, wir sollten nicht lange nach Claasen am Dom sein.«

3
    Wie ein Geist huschte Kevin über die groben Betonplatten, aus denen man einheitsgrau den Gehweg gelegt hatte. Das Gesicht dabei immer dem Boden zugewandt. Nepomuk hatte ihm erzählt, dass sie hochauflösende Kameras an Bord hatten, mit denen sich aus jeder Höhe seine Wimpern zählen ließen. Scheißbullen.
    Als er endlich die rettende Haustür erreichte und die quietschend nach innen pendelte, zog er die Kapuze zurück und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Geschafft. Hier drinnen dürften sie ihn nicht mehr finden, selbst mit ihrem Kackhubschrauber nicht. Er hielt die zurückpendelnde Tür mit der Schuhspitze auf und lugte durch den handbreiten Spalt.
    Da könnt ihr lange suchen, raunte er der Hubschrauberbesatzung zu, die über der Innenstadt noch eine Runde gedreht hatte und jetzt ihren Helikopter in etwa einhundert Metern Höhe einfach anhielt, als wäre da oben eine Bordsteinkante.
    Er zog den Fuß zurück und hetzte die vier
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