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Haut

Haut

Titel: Haut
Autoren: Mo Hayder
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nach vorn. Dort, ungefähr zehn Meter weiter, war die Wand des Steinbruchs zu Ende; sie hatte den Grund erreicht. Weiter ging es nicht, und es gab keinen Zweifel: Lucy Mahoney war nicht hier. Gut. Sie hatte recht gehabt. Es würde Spass machen aufzusteigen und Pearce mitzuteilen, dass er sich geirrt habe.
    Die Gummidichtung ihrer Maske sog sich an ihrem Gesicht fest - und blockierte.
    Sie griff nach der Maske. Versuchte, Atem zu holen. Aber da kam nichts; die Dichtung saugte sich noch fester, und sie verspürte einen vertrauten Druck unter dem Brustbein. Sie kannte das Gefühl vom Training her. Die Luft kam nicht durch. Sie fummelte über ihrem rechten Ohr an der Maske. Das war sicher kein Problem; das Team da oben pumpte die Luft zu ihr herunter, und der Vorrat konnte nicht zu Ende sein. Aber manchmal verhakte sich die Nabelschnur mit dem Druckhebel an der Maske und sperrte die Zufuhr ab. Das war leicht zu beheben. Wenn man Ruhe behielt. Ruhe.
    Ihr Herz klopfte, als sie den Hebel fand. Sie drückte ihn herunter und versuchte noch einmal zu atmen. Ihre Rippen spannten sich. Nichts kam. Sofort stellte sie den Hebel hoch.
    Nichts.
    Herunter. Nichts.
    »Sarge?« Wellard klang panisch. »Was ist los? Was läuft da unten?«
    Aber sie hatte keine Luft zum Antworten. Die Arme schmerzten. In ihrem Kopf dröhnte es, und es fühlte sich an, als wäre er auf die zweifache Größe angeschwollen. Als stünde jemand auf ihrer Brust. Sie riss den Kopf in den Nacken. Ihr Mund stand weit offen. Sie tastete nach dem Schalterblock an ihrer Weste, um auf die Notfallflasche umzuschalten.
    »Sarge? Ich habe sämtliche Ventile offen, aber irgendwoher dringt Luft ein. Haben Sie Druck?«
    Sie wusste, was da oben jetzt vorging. Der Standby-Taucher würde sich hektisch in den Anzug zwängen; vor lauter Panik würden seine Finger sich in den Gurten der Maske verheddern, und er würde alles vergessen, was er gelernt hatte. Seine Knie würden zittern. Er würde nicht rechtzeitig kommen. Sie hatte nur noch Sekunden, keine Minuten mehr.
    Mit einer gefühllosen Hand schlug sie an ihre Weste. Fand den Schalterblock nicht. Ihr Kopf schwoll immer weiter, immer härter an. Es kribbelte in ihren Gliedern.
    »Ich muss Sie rausziehen, Sarge. Das muss ich einfach.«
    Sie hörte nicht mehr zu. Die Zeit lief immer langsamer, und Wellard, der verzweifelt die Führungsleine einholte und sie herauszog, war in einer anderen Welt. Auf einem anderen Planeten. Sie wusste, dass ihr erschlaffter Körper sich ruckartig rückwärts durch das Wasser bewegte. Sie spürte, dass die Lampe aus ihren Fingern glitt, sie fühlte, wie sie träge an ihr Bein stieß, bevor sie versank. Sie versuchte nicht, sie festzuhalten.
    In der Dunkelheit zehn Meter vor ihr war etwas aufgetaucht, das aussah wie eine weiße Qualle. Nicht das, was sie kurz vorher halluziniert hatte, sondern etwas anderes, das sich blähte, sich in gespenstischen Spiralbewegungen hob und senkte wie eine Wolke aus Haaren. Es schien da zu schweben, von unsichtbaren Strömungen hin und her geschoben, als wäre es irgendwohin unterwegs gewesen - vielleicht zum Grund - und hätte jetzt innegehalten, um sie zu beobachten. Als interessierte es sich für das, was hier passierte. Für ihren Kampf.
    Die Oberseite dieses Dings hob sich, streckte sich, verlängerte sich zu langen, rankenähnlichen Haaren, und jetzt wusste sie, was sie sah.
    Mum.
    Mum, die seit zwei Jahren tot war. Das lange blonde Haar, das sie immer im Nacken zu einem Knoten gebunden hatte, hob sich und wallte in der Dunkelheit, wehte um ihr Gesicht.
    »Wach auf, Flea. Gib Acht auf dich.«
    Flea antwortete nicht. Sie konnte es nicht. In der realen Welt hatte ihr Körper sich auf die Seite gelegt und zuckte wie ein Fisch mit geplatzter Schwimmblase.
    »Gib Acht auf dich.«
    Mum drehte sich. Mit den Bewegungen ihrer kleinen weißen Hände steuerte sie ihren Körper so, dass sie Flea ins Gesicht sehen konnte. Ihr Haar umwehte sie, und ihre schlanken weißen Beine schwebten hinter ihr wie ein Schleier. Ihr liebes, fahles Gesicht war jetzt ganz nah, und sie legte Flea die Hände auf die Schultern. »Hör zu.« Ihr Ton war scharf. »Wach auf! Sofort. Gib Acht auf dich.«
    Sie schüttelte Flea, und als diese nicht reagierte, umfasste sie ihre Hand, führte sie zu dem Schalterblock und legte den Schalter um, der die Sauerstoffversorgung auf die Tauchflasche umstellte.
    Luft flutete in die Maske. Ihre Lunge blähte sich mit einem Schlag und riss ihr den Kopf in den
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