Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee
Autoren: Bastei Lübbe
Vom Netzwerk:
Stattdessen lief sie nun an der Hütte vorbei, weiter in Richtung Bar, wobei sie mit den Füßen kleine Straßen in den weißen Sand zog. »Dos helados de chocolate, por favor« – zwei Schokoladeneis bitte. So viel Spanisch musste sein. Sie riss das Papier auf. Mmh. Dunkel und süß. Jetzt also doch noch schnell zur Hütte. Jonah wartete sicher schon.
    »Qué guapa! La Blancanieves!«, rief ein kleiner Junge, als sie an ihm vorbeiging. Wie schön du bist, Schneewittchen! Sie hatten ihr das Wort am Strand übersetzt. Ein Mann verstummte mitten im Satz, als er sie kommen sah. Er hatte die gleichen kantigen Züge wie Wim Tanner, aber sein Blick war freundlich. Der Mann lächelte, und die Gespenster verschwanden. Zwei Mädchen, die Frisbee spielten, schauten ihr hinterher. Sie war schön. Sehr schön. Ihre Augen funkelten, ihre Haut glänzte, und ihr Bikini war nicht zu toppen. Sie hatte ihn mit Klara ein paar Tage vor ihrem Abflug gekauft. Ein schwarzer Bikini mit braunen Eichhörnchen drauf.
    »So etwas kann man nicht tragen«, hatte Klara gesagt. Aber als sie Jette dann in dem Bikini sah, hatte sie keine Einwände mehr gehabt. »Warum kaufst du dir eigentlich plötzlich einen Bikini?«, hatte sie gefragt.
    Die Frage war durchaus berechtigt gewesen. Jahrelang hatte Jette die alten Bikinis ihrer Freundinnen getragen, weil sie sich einfach nichts aus besonderen Klamotten machte. »Du warst achtundzwanzig Tage in der Gewalt eines Schwerverbrechers«, hatte Klara gesagt, »und kommst da raus wie … eine Blume, die im Frühjahr aus der Erde sprießt! Das soll mal einer verstehen.« Zwei Minuten später hatte sie dann eine Erklärung parat gehabt: »Na klar! Jonah!« Aber die kluge Klara hatte danebengelegen.
    Der Bikini hatte nichts mit Jonah zu tun. Sondern mit der Schatulle, die sie zurückgegeben hatte. An dem Tag hatte sich etwas geändert. Sie konnte nicht genau sagen, was. Aber etwas war geschehen. Irgendwie hatte sie seither den Eindruck, dass es genau richtig war, wie sie aussah.
    Das Kind, für das das Kästchen in dem alten Treppenhaus in der Villa bestimmt war, lebte noch. Es war inzwischen eine alte Dame. Katharina Landsen, geborene Mannscheid, sechsundachtzig Jahre alt. Norbert Königssohn, der Mann,der durch eine falsche Notiz vor fünfzehn Jahren die Ereignisse der vergangenen Wochen ins Rollen gebracht hatte, hatte sie für sie gefunden. Sie lebte in einem Altersheim nur zwei Autostunden von Jettes Zuhause entfernt.
    Jette hatte Charlie gebeten mitzukommen. Das Zimmer, in das sie traten, war klein und mit den typischen dunklen Möbeln älterer Leute zugestellt. Aber die Luft in dem Raum war gut. Eine Pflegerin führte sie zu der alten Dame, die in einem Lehnstuhl am Fenster saß. Die alte Frau wirkte sehr zart und zerbrechlich. Ihre dünnen weißen Haare rahmten ihren Kopf ein wie ein gepflegter Kranz. Sie trug ein blaues Kleid mit einem schneeweißen Kragen und eine große Brille. Jette legte ihr das Kästchen auf den Schoß. Aber die Hände der alten Dame zitterten zu stark, und so stellte Jette ihr die Dinge einzeln auf den Tisch. Das Foto der Mutter, die geschriebenen Zeilen, die kleine Dose mit den Haaren und das bestickte Taschentuch. Die Frau hatte das Kästchen noch nie gesehen.
    Die alte Dame führte das Foto dicht vor die Augen, nahm ihre Brille ab und setzte sie wieder auf. »Sie ist schön, nicht wahr?«, flüsterte sie, und dabei liefen ihr Tränen über die Wangen. »Sie kann kaum noch etwas sehen«, sagte die Pflegerin leise zu Jette. Dann legte Jette ihr die Haare in die geöffneten Hände, und die alte Dame hörte nicht auf, darüberzustreichen. »Meine liebe Katharina …«, las Jette ihr die Zeilen der Mutter vor und gab ihr zuletzt noch das bestickte Taschentuch.
    »Wisst ihr«, erklärte die alte Dame, »ich habe … nie etwas … von meiner Mutter gehört«, und dabei weinte sie ohne Unterlass.
    Jette besuchte die alte Dame am nächsten Tag noch einmal. Und am folgenden Tag auch. Bei ihrem letzten Besuch schenkte die alte Dame ihr das Taschentuch. Sie selbstwürde sowieso nicht mehr lange leben, da sollte Jette es haben. Als die alte Dame von ihrer Idee nicht abzubringen war, hatte Jette sich das Taschentuch um ihr Armgelenk gebunden und es seither nicht mehr abgelegt. Vorhin beim Baden war Jonah regelrecht ausgeflippt und hatte gemeint, das Taschentuch am Armgelenk sei gefährlich, da sie damit unter Wasser irgendwo hängen bleiben könnte. Aber sie hatte sich geweigert, es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher