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Haut, so weiß wie Schnee

Haut, so weiß wie Schnee

Titel: Haut, so weiß wie Schnee
Autoren: Bastei Lübbe
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sie so ein Gen ja wirklich, nur dass es eben noch niemand entdeckt hatte. Aber sie hatte nur gelacht und gesagt: »Jo! Nicht auch noch du. Ich dachte, mit dem Thema wären wir durch. Es ist doch echt egal.«
    Tatsächlich aber hatte er an ihrer Haut keinerlei Spuren entdeckt, die an das, was in den vergangenen Wochen passiert war, erinnerten. Wenn er ehrlich war, gefiel ihm das nicht. Eine klitzekleine Narbe hätte sie wenigstens zurückbehalten können, fand er. Als Zeichen für das, was sie gemeinsam durchgestanden hatten.
    »Was machst du denn für ein Gesicht?«, sagte Jette träge.
    »Hast du eigentlich irgendeine Narbe?«, fragte Jonah.
    »Wenn es sonst nichts ist …«
    »Sag doch mal.«
    »Weiß ich nicht.«
    »Ich glaub, du hast keine.«
    »Genau, Jonah Mint«, sagte sie und lachte. »Das Leben hinterlässt bei mir einfach keine Spuren. Weder auf der Haut noch im Herzen.«
    »Das hab ich doch gar nicht gemeint.«
    »Nicht? Dann beweis es.«
    »Wie?«
    »Küss das Mädchen ohne Narben.«
    Er beugte sich über sie. Ihre Lippen waren feucht und weich. Sie schmeckten nach Salz und Pfefferminz. Er schloss die Augen. Farben blitzten durch sein Gehirn. Er küsste ihre Mundwinkel. Das war ein blauer Kuss. Dann ihre Oberlippe. Ein klares Grün. Dann ihre Schneidezähne. Das war lila. Er berührte ihre Zunge. Ein grellgelber Blitz. Er wollte mehr.
    Eine Welle rauschte heran, überspülte sie, wirbelte sie zur Seite. Wo war das Wasser plötzlich hergekommen? Ihr Mund verschwand. Er suchte nach ihr in dem dunklen, sprudelnden Wasser, bekam endlich ihre Hand zu fassen. Sie richteten sich langsam wieder auf.
    »Sollen wir …?«, sagte Jette. Er verstand sie nicht. Er zeigte auf seine Ohren. Er hatte Wasser hineinbekommen. »… SCHWIMMEN …?«, schrie sie. Er nickte. Sie nahm ihn an der Hand und lief mit ihm ins Meer hinein. Als sie nicht mehr stehen konnten, schwammen sie weiter, die Nachmittagssonne im Rücken. Er zählte die Schwimmstöße … dreißig … vierzig …fünfzig.
    Das Zählen war ihm zur zweiten Natur geworden. Er tat es ganz automatisch. In ihrer Hütte waren es vier Schritte von der Hängematte zum kleinen Tisch. Vierunddreißig Schritte von der Hütte zum Meer, zumindest am Morgen bei Ebbe. Sieben Schritte hinter ihrer Hütte hatte Jette eine kleine Schlange gesehen. Jonah hatte sofort an die Babypuffotter von Wim Tanner gedacht. Was aus ihr wohl geworden war? Sechzig … siebzig … achtzig … »Jette?«, rief er und paddelte mit den Füßen auf der Stelle, um den Kopf über Wasser zu halten.
    Eine leichte Berührung war die Antwort. »… tau…«, sagte sie.
    »Was?«, rief er.
    Sie schrie ihm ins Ohr: »ICH SCHAU MAL, OB MAN HIER BIS ZUM BODEN TAUCHEN KANN. BIN GLEICH WIEDER DA.«
    Er wollte nein sagen, verbiss es sich aber. Im nächsten Moment holte sie bereits tief Luft. Dann spürte er ihre Bewegung hinab in die Tiefe. Wie ihr Körper das Wasser zur Seite drängte und es von oben wieder nachfloss. Kleine Wellen vom Meer her verwischten ihre Bewegung. Er bliebpaddelnd im Wasser stehen. Allein. Er musste an die Sache mit dem Kettchen am Baggersee denken.
    Eine Welle schwappte ihm ins Gesicht. Er verschluckte sich. Nichts als Salzwasser um ihn herum. Er streckte seinen Kopf in die Höhe. Die Sonne brannte. Er versuchte, sich das Wasser aus den Ohren zu schütteln. Ich muss hören können, dachte er. Wieder schwappte eine Welle in sein Gesicht, und er schluckte noch mehr Salzwasser. Er bekam Panik. Ich sehe nichts und höre nichts, dachte er. Überhaupt war dieser ganze Urlaub eine Nummer zu groß für ihn. Wieder bekam er eine Welle ab. Wieso war er überhaupt mitgefahren? Das konnte ja nicht gut gehen. Die Strandschönheit und der Behinderte! Da erscholl neben ihm Jettes atemlose, begeisterte Stimme: »Es ist zu tief. Man kommt nicht bis runter. Aber da unten sind ganz viele Fische!« Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund. Er schmeckte nach Salz und Pfefferminz. Wie sehr er sie liebte!
    Jette lief den Strand zur Hütte hoch. Die Sonne kribbelte auf ihrer nassen Haut. Sie hüpfte ausgelassen. Tropfende Haarsträhnen glitzerten vor ihren Augen. Sie lachte vor Freude, weil sie sich so lebendig fühlte. Wie das Blut in ihrem Körper pulsierte. Sonnenwarm. Lustwarm. Seit acht Tagen waren sie an diesem Strand. Sie und Jonah.
    Eigentlich wollte sie die Post holen, die ihr Vater aus Deutschland mitgebracht hatte und die noch ungeöffnet in der Hütte lag. Aber was war das eigentlich für eine Idee!
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