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Hausers Zimmer - Roman

Hausers Zimmer - Roman

Titel: Hausers Zimmer - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Fisch lag in einem Meer glitzernder, von Blutrinnsalen durchzogener Schuppen, auf einer zerdellten Fanta-Dose sammelte sich Regenwasser, Wind fuhr pfeifend durch die verdorrten Sträucher. Ich stapfte durch das Gestrüpp, das mir bis zu den Hüften reichte, passte auf, dass keine Konservendosendeckel in meine Turnschuhe schnitten. Und da waren sie wieder, die Ratten, die eigentlichen Herren über dieses Gebiet, das seit dem Krieg niemand mehr bebauen wollte, weil es zu feucht war. Da waren sie: Sie hüpften auf Waschmitteltonnen, sprangen über ausrangierte Kühlschränke und Kinderwagen, rollten behände wie Zirkustiere auf Bierflaschen und stellten sich auf die Hinterbeine, um einen Pappteller mit zermatschten Pommes zu ergattern. Sie wälzten sich in Ketchup, suhlten sich in Mayonnaise und purzelten in Senflachen. Sie gelangten mühelos auf ein altes Klavier und schlugen zwei, drei wilde Akkorde an. Von dort kletterten sie in ein kaputtes Kettcar, sprangen zwischen verbogene Fahrradspeichen und hopsten auf einer alten verrosteten Schreibmaschine herum, schrieben unsichtbare Brief e – himmelwärts. An ihren großen, gütigen Rattengott. Ihr Gott war gütig, da war ich mir sicher. Vielleicht erlebten ja alle Herrschaftssystem e – um einen bevorzugten Begriff von Wiebke und Klaus zu benutze n – die gleiche Abfolge von Blüte und Verfall, nur zu unterschiedlichen Zeiten. Falls es für Ratten ein »altes Rom« geben sollte, dann entfaltete es sich hier in West-Berlin, zu Beginn des Jahres 1982, direkt vor meinen Augen.
    Nachdem ich herumgelaufen war, ließ ich mich auf einer alten Ariel-Tonne nieder. Sofort landete eine Taube auf meiner Schulter. Selbst durch kräftige Handbewegungen ließ sie sich nicht verscheuchen. Nein, sie verscheuchte meine Hand mit ihrem Flügelschlag. Schließlich kapitulierte ich, und sie pickte mir seelenruhig eine Cornflakesflocke aus meinem Wollschal. In ihren Augen sah ich keinen Stolz, keinen Triumph, nur das sture, durch nichts zu erschütternde Selbstbewusstsein Jahrhunderte alter Herrschaft. Dann spazierte sie ohne Hast meinen Arm herab, über meine rotgefrorene Hand, auf die Tonne und von dor t – hoch erhobenen Haupte s – auf die verrostete Schreibmaschine. Und schrieb fröhlich klappernd Briefe. An ihren großen, gütigen Taubengott.
    Noch einmal krachte e s – rot, grün, gold flackerte die Brandmauer auf. Bunt leuchtete das Graffiti All you need is LSD auf. Hinter aufsteigenden Rauchschwaden konnte man Lummerland ist abgebrannt und Bonzen, wir kriegen euch lesen. Klein auf der Höhe eines Kindes auch drei Üs. Woher die kamen, wusste ich ganz genau. Noch einmal leuchtete der Himmel über dem Rattenloch in Diskofarben auf. Die Ratten und die Tauben fingen an zu tanzen. Und ic h – ich war einfach nur dabei.
    Geschlossen hatte Falk an seine Tür gehängt, als ich vom nächsten missglückten Eierbechertöpferversuch nach Hause kam. Dieses Schild galt nur mir, denn Wiebke und Klaus waren abends nach der Tagesschau fast immer unterwegs. Unsere Eltern wollten nicht, dass wir sie mit Mama und Papa anredeten, sie nannten uns ja auch nicht Sohnemann und Tochter, sondern Falk und Julika, so ihre Begründung. Zum Glück hatten sie kurze Vornamen.
    Ich hörte endlose Bassläufe und ahnte, dass mein Bruder auf seinem Hochbett saß und Roth-Händle ohne Filter rauchte. Da hatte er mich nicht gern dabei. Falk war lieber allein, das hieß: allein mit seinen Platten. Ohne Musik wäre er jämmerlich krepiert. Im Urlaub hatte er von Anfang bis Ende schlechte Laune, weil er vorher nur einen Bruchteil seiner Platten auf Kassette überspielen konnte. Gut ging es ihm erst, wenn der Grenzübergang in Sicht, Berlin also nicht mehr fern war. Beim Anblick des russischen Panzerdenkmals am Grenzübergang Dreilinden freute er sich immer mächtig. Endlich wieder zurück in die Höhle. Falk hasste Reisen. Sicher auch, weil lange Autofahrten für ihn unbequem waren: Er war mit siebzehn Jahren fast einen Meter neunzig groß.
    Ich dagegen sammelte nicht Platten, sondern Aufkleber. Meine Tür war mit den widersprüchlichsten Aussagen der Zeit zugeklebt: Vom überstrapazierten Gemeinschaftsdenken bis zum selbstsüchtigen Rette sich wer kann! , vom hysterisch ausgerufenen Endlos-Party-Optimismus bis zum ebenso hysterisch heraufbeschworenen Katastrophenszenario, von Klo- und Galgenhumor bis zu witzfreier Bitternis.
    Seit Neuestem klebte, zwischen HE -Man und der Maus aus der Sendung mit der Maus , ein
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