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Hausers Zimmer - Roman

Hausers Zimmer - Roman

Titel: Hausers Zimmer - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Arbeit angekündigt, die letzte vor den Zeugnissen. Zum Glück konnte ich mit Sena und Pepita absprechen, dass ich mich zwischen sie setzen durft e – damit wäre dann meine Note gerettet.
    In Chemie schütteten wir wieder in sinnloser Weise Flüssigkeiten ineinander, und natürlich funktionierte der Versuch nicht. Am Ende hatten wir kein weinrot gefärbtes Wasser in unseren Reganzgläsern (dies hatte Herr Knecht uns zuvor als »Weihnachtsüberraschung« angepriesen), sondern, wie immer: eine braune Flüssigkeit. Melanie tröstete Herrn Knecht, indem sie meinte, man könne dabei ja an Nürnberger Lebkuchen denken. Das fand ich originell. Ich hatte in meiner Einfalt an etwas Anderes gedacht.
    Der Biologieunterricht bot auch keine Überraschung. In meiner gesamten Schulzeit hatten wir nicht einmal in diesem Fach Kakteen oder Palmen durchgenommen. Warum der Riesenalk ausgestorben war, wusste ich immer noch nicht, obwohl ich Kugeritz schon oft deshalb genervt hatte. Vielleicht würden Schüler in ferner Zukunft ihren Lehrer, nennen wir ihn doch Herrn Großalk, fragen, warum der Kugeritz im späten 20 . Jahrhundert ausgestorben is t – da würde es Herrn Kugeritz sicher auch freuen, wenn man ihn nicht ganz vergessen hätte und etwas über ihn erzählen könnte.
    Abends sah ich mit meinen Eltern eine Sendung über das Waldsterben. Es gab neue Erkentnnisse dazu, plötzlich waren Experten der Ansicht, das Waldsterben sei nicht auf das Schwefeldioxid, sondern auf einen erhöhten Ozongehalt in der Luft zurückzuführen. Wiebke und Klaus waren sich einig, dass die »Schwefellobby« nur von ihrem Problem ablenken wolle. Mir gefiel merkwürdigerweise das Wort »Schwefellobby«. Einfach so. Aber der Gedanke, dass Deutschland sich unausweichlich in ein von Tundra geprägtes Land entwickelt e – wenn man den Klimawandel mit der neuen Eiszeittheorie und das Waldsterben zusammennah m –, war doch ziemlich bedrückend.
    Am nächsten Nachmittag rief Isa an, die längst zurück in Düsseldorf war. Sie war weiterhin glücklich verliebt und erzählte mir ausführlich von Marco. Am Ende des Telefonats meinte sie plötzlich, sie habe noch eine sehr interessante Nachricht für mich. »Weißt du, wen mein Vater gerade behandelt?«
    »Den König von Trinidad und Tobago«, murmelte ich in den Hörer.
    »Nein, den Typ aus der Apothek e … Her r – du weißt schon, ich habe seinen Namen vergessen, so einen spanischen Namen.«
    »Herr Adán! Der ist ein Patient deines Vaters? Was hat er denn verbrochen?«
    »Er ist im Herbst ein Stückchen nackt über den Ku’damm gelaufen, an der leeren Polizeikanzel vorbei, zwei genervte Nutten haben sofort die Polizei gerufen. Als er abgeführt werden sollte, ist er völlig ausgerastet, hat sich der Verhaftung widersetzt, hat um sich gebissen und s o … War wohl ziemlich schlimm.«
    Ich schwieg erschrocken. »Und was meint dein Vater über ihn? Auf welchem Gebiet ist er ein Genie?«
    »Er sei ein Exhibitionist, dessen Exhibitionismus nicht sexuell motiviert se i … das meinte er nur, und dass sein Exhibitionismus erst kürzlich aufgetreten sei. Und dass er Heimweh habe. Nach Patagonien. Aber im Moment kann er dahin nicht zurück.«
    Die Folterkammer in Chile, in Patagonien. Ich konnte nicht mehr weitersprechen.
    Nachts lag ich wach und heulte stundenlang in mich hinei n – es war die Art von Heulen, die dem Regen draußen am ehesten entsprach. Wenigstens einmal war ich ohne Anstrengung in Einklang mit meiner Umgebung. Der Regen in diesen langen Nächten vor Heiligaben d – den längsten Nächten des Jahre s – hatte etwas Endzeitliches und Ewiges.
    Unvorstellbar, dass die Welt, wie ich sie damals kannte, ganze sieben Jahre später auf den Kopf gestellt werden sollte. Berlin sollte eine andere Stadt werden, anders aussehen, riechen, klingen, eine andere Geschwindigkeit und andere Grenzen haben und ich plötzlich ein »Wessi« sein, der ich nie gewesen war. Zwischen »dem Westen« und uns schien damals ein Meer zu liegen. Zwischen »dem Osten« und uns nur eine schmale Mauer, die auf geheimnisvolle Weise nicht nur trennte, sondern auch verband. Von einer Insel aus geht es in alle Himmelsrichtungen weiter.
    Damals im Dezember 1982 regnete es so unablässig in Berlin, dass ich dachte, wir würden versinken. Schnee und Weihnachten wäre zu viel Romantik gewesen, der zuvor gefallene Schnee hatte sich längst in Matsch verwandelt. Neuschnee hob sich diese Stadt für den Jahresanfang, für die braunen,
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