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Hassbluete

Hassbluete

Titel: Hassbluete
Autoren: Agnes Kottmann
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wären, würde er zumindest an Krücken laufen können und irgendwann vielleicht sogar ganz ohne.
    Seine Erinnerungslücken betrafen vor allem die letzten Stunden vor dem Sturz. Er meinte, da wäre einfach Leere in seinem Kopf. Der Arzt glaubte, dass er sich und seinen Körper mit dieser Verdrängungsmethode schützte, um möglichst schnell wieder gesund werden zu können. Vielleicht käme die Erinnerung erst dann zurück, wenn er sich wieder sicher und einigermaßen stabil fühlte. Genauso konnte es aber auch passieren, dass die Erinnerung nie mehr zurückkehren würde.
    Trotzdem wollte Mike alles über Robin und Wolfgang wissen und ich musste ihm jedes Detail haarklein erzählen. Ich versuchte, möglichst wenig auszulassen und ihn trotzdem mit dem Schlimmsten zu verschonen. Am Ende bemerkte ich dazu: »Vielleicht war alles wirklich nur ein teuflisches Spiel!?«
    Als Mike wieder einigermaßen erholt war und man schon darüber beriet, wann man ihn nach Hause entlassen konnte, fragte ich ihn an einem Nachmittag vorsichtig, ob er sich an sein letztes Gespräch mit Robin erinnern könne.
    »Ja«, sagte er. »Ich weiß noch, was ich zu ihm gesagt habe. Aber ich habe es nicht gesagt, damit er sich umbringt. Jeder ist für seine Gefühle und seine Taten selbst verantwortlich, auch wenn andere meinen, sie durch Verständnis und Anteilnahme mittragen zu können.« Das klang sehr nach Psychologie-Handbuch. Wahrscheinlich hatte er das in seiner Therapie gelernt. Seit Kurzem sprach er zweimal die Woche mit einer Psychologin, die auf posttraumatische Belastungsstörungen und Trauma-Verarbeitung spezialisiert war.
    »Meine Psychologin hat gemeint, dass es hilft, darüber zu reden.«
    Ich sah ihn nur erwartungsvoll an.
    »Als ich Robin nachgegangen bin …«, fuhr Mike fort.
    »… um alles in Ordnung zu bringen?«, fügte ich hinzu.
    Er nickte. »Da hab ich ihn doch noch gesprochen, aber habe mich nicht bei ihm entschuldigt.«
    Sondern?
    »Er hat mir gedroht, dass er mich verantwortlich machen wird – für alles. Ich hab das nicht ernst genommen. Ich habe ihn ausgelacht und ihm gesagt, dass er sich nicht so aufspielen soll, sonst würde ich noch einmal allein mit ihm an die Berkel gehen und seine Hände fesseln, bevor ich ihn ins Wasser schmeiße. Mehr weiß ich nicht mehr. Auch nicht, was Robin darauf geantwortet hat.«
    Mist, da hatte Wolfgang also nicht gelogen.
    Mike sah in mein erschrockenes Gesicht und meinte: »Natürlich hätte ich das nicht wirklich gemacht. Ich wollte mir von dem kleinen Hosenschisser einfach nicht drohen lassen und ihm einen Schreck einjagen. Er hat das doch nicht wirklich ernst genommen? Hoffe ich.«
    Er sah unsicher auf seine Bettdecke.
    »Das kann man nicht wissen«, erwiderte ich. Ich war einfach sprachlos. »Du hast es wirklich getan? Ich hab gedacht … gehofft, dass Wolfgang lügt.«
    Mike sah mich irritiert an, als käme jetzt doch eine Erinnerung an Wolfgang und die entsprechende Situation zurück. Aber er schwieg. Mir war klar, dass ich diese entscheidende Szene in Mikes Zimmer vor vielen Wochen von dem heutigen Standpunkt aus ganz anders betrachtete als damals. Heute würde ich auch ganz anders auf Robins Frage reagieren. Und ich sah auch Mike anders als damals.
    »Warum?«, fragte ich ihn.
    »Weil ich nie im Leben gedacht hätte, dass er sich deshalb etwas antut«, sagte Mike betroffen. »Weil ich überhaupt nicht über irgendwelche Konsequenzen meiner Worte nachgedacht habe.«
    Robin hatte uns allen mit seiner letzten Frage eine allerletzte Chance gegeben und keiner von uns hatte sie genutzt – im Gegenteil.
    »Ich weiß, das war total blöd, aber ich war so eifersüchtig. Ich habe nicht erkannt, wie Robin in diesem Moment drauf war und was diese Antwort für ihn bedeutete. Sonst hätte ich einfach geschwiegen. Denn seinen Tod wollte ich ganz bestimmt nicht. Das musst du mir glauben!«
    »Ich weiß«, flüsterte ich. Dann drehte ich mich zu ihm, legte meine Arme um seinen Hals und küsste ihn.
    »Warum hast du nie was gesagt?«, fragte ich in sein Ohr.
    »Und du?«, fragte er zurück. Er wusste offenbar sofort, was ich meinte.
    »Ich war mir einfach nicht sicher, ob ich überhaupt in dich verliebt bin. Das war alles so konfus …!?«
    »Und jetzt?« Er lächelte, als würde er die Antwort schon kennen.
    »Jetzt … jetzt ist es nicht mehr ganz so konfus, glaube ich.« Ich merkte, dass mein Gesicht rot anlief.
    »Dann gucken wir doch einfach mal, was passiert«, sagte er, grinste, legte
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