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Hasenherz

Hasenherz

Titel: Hasenherz
Autoren: John Updike
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verlassen; sein Herz schwimmt in Schmerz, es hat schon lange in Schmerz geschwommen, aber jetzt taucht es tiefer in die bodenlosen Tiefen des Verlusts. Nie mehr wird er sie schreien hören, nie mehr wird er ihre marmorierte Haut sehen, nie mehr ihr Vogelgewicht in den Armen halten und nie mehr die kleinen blauen Schlitze ihrer Augen beobachten, ob sie sich dem Klang seiner Worte öffnen. Nie mehr – dies Wort ist ohne Ende, nie wird er es abmessen können.
    Sie gehen zum Friedhof. Er und sein Vater und Janices Vater und der Institutsangestellte tragen den weißen Kasten zum Leichenwagen hin aus. Er hat Gewicht, aber dies Gewicht kommt nur vom Holz. Der Friedhof ist schön um vier Uhr. Sein umhegtes grünes Nachmittagsschläfchen neigt sich ein wenig schräg, parallel gleichsam mit den Strahlen der Sonne. Die Grabsteine werfen lange, schiefergraue Schat ten. Die bedächtige Prozession zieht sich einen knirschenden blauen Kiesweg hinauf; ihr Ziel ist ein frommer, grüner Baldachin, der nach Erde und Farn duftet. Weit in der Ferne vor ihnen ein Halbmond aus schwarzem Wald. Der Friedhof liegt hoch am Berg, zwischen der Stadt und dem Wald. Zu ihren Füßen rauchen die Schornsteine. Harry kann übers Tal hinaussehen, aber es sieht anders aus von hier oben, blauer. Zwischen den Grabsteinen ganz hinten, zwischen lauter verwitterten Zähnen, rattert ein Mann auf einer Mähmaschine dahin, Schwalben stoßen in zerstiebendem Schwarm auf ein flaches, steinernes Haus nieder, eine Gruft, und werfen sich wieder empor. Der weiße Sarg wird kunstvoll mit Hilfe von Rollen aus dem tiefen Leib des Leichenwagens auf dunkelrote Schlaufen hinüberbefördert, die ihn dann über dem quadratisch ausgestochenen, kleinen, aber sehr tiefen Grab in der Schwebe halten. Das leise Knarren und Ächzen kratzt an der Wand des Schweigens. Schweigen. Ein Hüsteln. Die Blumen sind ihnen separat gefolgt. Da stehen sie jetzt alle unter dem Baldachin. Hinter Harrys Füßen liegt ein säuberlich aufgeschaufelter kleiner Lehmhügel mit ein paar Grasschollen obendrauf, der darauf wartet, zurückgeschüttet zu werden, und in der Zwischenzeit einen bedeutungsschweren Erdhauch ausatmet. Die Männer vom Bestattungsunternehmen sehen befriedigt aus, sie falten die rosa Hände über ihren Hosenknöpfen. Stille.
    «Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.»
    Eccles’ Stimme klingt dünn hier draußen. Das ferne Knattern der Mähmaschine setzt pietätvoll aus. Rabbit vibriert innerlich vor Erregung und Kraft. Er ist sicher, daß seine kleine Tochter gen Himmel gefahren ist. Und mit dieser Gewißheit füllt er Eccles’ gespreizte Worte, so, wie ein lebendiger Körper eine Haut füllt. «O Herr, der du einen lieben Sohn hast, der die Kleinen in seine Arme nahm und segnete: sei uns gnädig, wir bitten dich darum, nimm die Seele dieses Kindes zu dir, gieß deine nie versiegende Barmherzigkeit und Liebe über sie aus und führe uns alle in dein Reich durch deinen Sohn, Jesus Christus, unsern Herrn. Amen.»
    «Amen», flüstert Mrs. Springer.
    Ja. So ist das. Er fühlt sie alle neben sich, die Köpfe so reglos rings um ihn wie Grabmäler, er empfindet sie alle zusammengeschmolzen mit dem Gras, den Treibhausblumen, mit den Männern vom Bestattungs institut, mit dem unsichtbaren Gärtner, der seine Maschine angehalten hat; zusammengeschmolzen zu einer einzigen Macht, die seinem un getauften Kind zum Flug in den Himmel helfen soll.
    Ein elektrischer Schalter wird bedient, und die Schlaufen senken den kleinen Sarg langsam ins Grab hinunter und halten dann wieder an. Eccles malt ein Kreuz aus Sand auf den Deckel. Einzelne Körner rollen eines nach dem ändern vom gewölbten Deckel in die Grube hinab. Eine rosa Hand wirft zerdrückte Blumenköpfe hinterdrein. «Nimm dich gnädig all derer an, wir bitten dich, die voll Trauer sind, auf daß sie alle Sorge auf dich werfen …» Die Schlaufen quietschen wieder. Janice an seiner Seite schwankt. Er faßt ihren Arm, und die Hitze ihres Körpers dringt sogar durch den Stoff. Ein leichter Wind bläht den Baldachin und läßt ihn knattern wie ein Segel. Der Duft der Blumen steigt zu ihnen herauf. «… und der Heilige Geist, und er segne dich und behüte dich, jetzt und immerdar. Amen.»
    Eccles klappt sein Buch zu. Harrys Vater und Janices Vater stehen dicht beieinander, und sie sehen auf und blinzeln beide. Die Männer vom Bestattungsunternehmen suchen geschäftig ihre Siebensachen zusammen, ziehen die Schlaufen aus der Grube
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