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Harter Schnitt

Harter Schnitt

Titel: Harter Schnitt
Autoren: Karin Slaughter
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beobachtete sie durchs Fenster.« Evelyns Stimme zitterte. » In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Angst.«
    Will kannte diese Art von Angst ziemlich gut. » Was passierte, bevor Faith kam? Sie machten gerade Sandwiches, nicht?«
    » Ich wusste, dass Faith sich verspäten würde. Es gibt ja immer einen Idioten in der ersten Reihe, der sich produzieren will.« Sie schwieg einen Augenblick, schien sich zu sammeln. » Hector hatte mich am Lebensmittelladen abgeholt. Er kannte meine Gewohnheiten. Er war so ein Mann. Er hörte zu, wenn man ihm etwas sagte.« Sie schwieg einen Augenblick, vielleicht ihrem früheren Liebhaber zu Ehren. » Er wollte Caleb in der Klinik besuchen und musste erfahren, dass er sich selbst entlassen hatte. Man sperrt die Jungs dort nicht ein. Caleb spazierte einfach zur Tür hinaus. Das hätte uns nicht überraschen sollen. Ich hatte bereits einige Leute angerufen und erfahren, dass Ricardo sich auf Sachen eingelassen hatte, die für sie alle nicht gut waren.«
    » Heroin.«
    Sie atmete langsam aus. » Hector und ich reimten uns die ganze Geschichte zusammen, während ich ihn zum Haus zurückfuhr. Wir wussten, dass Ricardo in Julias Werkstatt arbeitete, so wie wir wussten, dass nichts Gutes dabei herauskommen würde, wenn diese Jungs sich zusammentaten. Folie à plusieurs.«
    Will kannte diesen Begriff. Er bedeutete einen psychischen Zustand, in dem eine Gruppe scheinbar normaler Personen eine gemeinsame Psychose entwickelte, wenn sie zusammen waren. Die Manson-Familie. Die Branch Davidians. Im Zentrum eines solchen Gruppenwahns steht immer ein labiler Anführer. Roger Ling hatte ihn den Kopf der Schlange genannt. Und ein Mann wie Roger Ling sollte das wissen.
    Evelyn fuhr fort: » Ich wollte, dass Faith früh nach Hause kam, damit sie Hector kennenlernte und ich zu einer Erklärung gezwungen wäre.«
    » Brachte Caleb Hector um?«
    » Ich denke, er muss es gewesen sein. Es war hinterlistig und feige. Ich hörte das Geräusch– man vergisst das Geräusch, das ein Schalldämpfer macht, nicht, wenn man es ein Mal gehört hat– und schaute in den Carport hinaus. Der Kofferraum war geschlossen, und es war niemand zu sehen. Ich überlegte nicht lange. Vielleicht hatte ich schon die ganze Zeit gedacht, dass so etwas passieren würde. Ich nahm Emma in den Arm und brachte sie in den Schuppen. Dann kam ich mit meiner Waffe zurück, und da war ein Mann in meiner Wäschekammer. Ich erschoss ihn, bevor er den Mund aufmachen konnte. Und dann drehte ich mich um, und da stand Caleb.«
    » Sie haben mit ihm gekämpft?«
    » Ich konnte ihn nicht erschießen. Er war unbewaffnet, und er war mein Sohn. Aber ich ergab mich nicht.« Sie schaute auf ihre verletzte Hand hinunter. » Ich glaube, er hatte nicht erwartet, dass ich mich so heftig dagegen wehren würde, dass er mir den Finger abschnitt.«
    » Er schnitt ihn bereits zu diesem Zeitpunkt ab?« Will hatte angenommen, das hätte zu den späteren Verhandlungen gehört.
    » Einer der Jungs saß auf meinem Rücken, während Caleb ihn abschnitt. Er benutzte das Brotmesser. Er sägte, wie man es bei einem Baum macht. Ich glaube, er genoss meine Schreie.«
    » Wie konnten Sie ihm das Messer abnehmen?«
    » Das weiß ich nicht mehr so genau. Solche Sachen passieren einfach, ohne dass man darüber nachdenkt. Genau genommen erinnere ich mich kaum noch an etwas, das danach passierte, aber ich weiß noch, wie dieser andere Junge auf mich fiel, und ich spürte, wie das Messer in seinen Bauch eindrang.« Sie atmete scharf aus. » Ich lief in den Carport, um Emma zu holen und dann zu verschwinden. Und dann hörte ich Caleb ›Mama, Mama‹ schreien.« Wieder hielt sie kurz inne. » Es klang, als wäre er verletzt. Ich weiß, dass mich das dazu brachte, wieder hineinzugehen. Es war reiner Instinkt, wie das mit dem Messer, aber Letzteres war Selbstschutz, und Ersteres war Selbstzerstörung.« Offensichtlich hatte sie noch immer mit der Erinnerung zu kämpfen. » Es war mir bewusst– wie falsch es war. Ich weiß noch sehr gut, als ich an meinem Auto vorbei und wieder ins Haus rannte, dachte ich, das ist so ziemlich das Dümmste, was ich je in meinem Leben tun werde. Und ich hatte recht. Aber ich konnte nicht anders. Ich hörte ihn nach mir rufen und rannte wieder hinein.«
    Erneut machte sie eine Atempause. Die Sonne stand inzwischen so tief, dass sie ihr in die Augen schien. Will erhob sich und stellte die Jalousien schräger.
    Sie hauchte erschöpft: »
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