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Harter Schnitt

Harter Schnitt

Titel: Harter Schnitt
Autoren: Karin Slaughter
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unterwegs, um Besorgungen zu machen. Faith hatte sich über eine Stunde verspätet. Mit Sicherheit hatte Evelyn das Baby genommen und… Faith eine Nachricht hinterlassen, dass sie unterwegs sei. Die Frau hatte den Großteil ihres Erwachsenenlebens Dienstbereitschaft gehabt. Sie ging nicht einmal auf die Toilette, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Faith und ihr älterer Bruder Zeke hatten sich als Kinder darüber lustig gemacht. Sie wussten immer, wo ihre Mutter war, auch wenn sie es gar nicht wissen wollten. Vor allem, wenn sie es nicht wollten.
    Faith starrte das Telefon in ihrer Hand an, als könnte es ihr sagen, was los war. Sie war sich bewusst, dass sie sich wahrscheinlich wegen nichts und wieder nichts aufregte. Das Festnetz konnte ausgefallen sein. Ihre Mutter würde das nur merken, wenn sie zu telefonieren versuchte. Ihr Handy konnte ausgeschaltet oder im Ladegerät oder beides sein. Ihr BlackBerry konnte in ihrem Auto oder in ihrer Handtasche oder irgendwo sein, wo sie das charakteristische Vibrieren nicht hörte. Faith schaute zwischen Straße und ihrem BlackBerry hin und her, während sie eine E-Mail an ihre Mutter tippte. Beim Tippen sprach sie die Wörter laut mit:
    » Unterwegs. Sorry-für-die-Verspätung. Ruf-mich-an.«
    Sie schickte die Mail ab und warf dann das Telefon auf den Beifahrersitz zu den verstreuten Dingen aus ihrer Handtasche. Nach kurzem Zögern steckte sie sich den Kaugummi in den Mund. Sie kaute beim Fahren und ignorierte die Flusen aus der Handtasche, die an ihrer Zunge klebten. Sie schaltete das Radio ein und gleich wieder aus. Je näher sie der Stadt kam, umso dünner wurde der Verkehr. Die Wolken trieben auseinander und schickten helle Sonnenstrahlen auf die Erde. Der Innenraum des Autos wurde zu einem Backofen.
    Zehn Minuten später waren ihre Nerven noch immer aufs Äußerste gespannt, und sie schwitzte von der Hitze im Auto. Sie öffnete das Sonnendach einen Spalt, um ein bisschen frische Luft hereinzulassen. Das Ganze war vermutlich ein simpler Fall von Trennungsangst. Seit gut zwei Monaten arbeitete sie wieder, doch noch jeden Morgen hatte sie, wenn sie Emma bei ihrer Mutter ablieferte, fast so etwas wie einen Anfall. Ihre Sicht verschwamm. Das Herz hämmerte in ihrer Brust. Ihr Kopf summte, als wären ihr eine Million Bienen in die Ohren geflogen. In der Arbeit war sie noch gereizter als sonst, vor allem bei ihrem Partner Will Trent, der entweder die erforderliche Geduld ihr gegenüber aufbrachte oder sich ein glaubhaftes Alibi zurechtbastelte für den Augenblick, da ihm endlich der Geduldsfaden riss und er sie erwürgte.
    Faith konnte sich nicht erinnern, ob sie bei Jeremy, ihrem Sohn, der inzwischen bereits auf dem College war, dieselbe Angst gespürt hatte. Faith war achtzehn Jahre alt gewesen, als sie in die Polizeiakademie kam. Jeremy war damals drei Jahre alt. Sie klammerte sich an die Idee, zur Polizei zu gehen, als wäre sie der einzige Lebensretter auf der Titanic. Dank gedankenloser zwei Minuten in der hinteren Reihe eines Kinos und einer Fehlentscheidung, die ein Leben atemberaubend schlechten Geschmacks bei Männern vorausahnen ließ, war Faith ohne die ansonsten üblichen Zwischenstopps aus der Pubertät in die Mutterschaft gesprungen. Mit achtzehn Jahren hatte sie sich an den Gedanken geklammert, ab jetzt ein regelmäßiges Gehalt zu verdienen, damit sie aus dem Haus ihrer Eltern ausziehen und Jeremy so erziehen konnte, wie sie wollte. Jeden Tag zur Arbeit zu gehen war ein Schritt in die Unabhängigkeit gewesen. Ihn in Tagespflege geben zu müssen, war ihr damals als geringer Preis erschienen.
    Jetzt, da Faith vierunddreißig Jahre alt war, eine Hypothek und einen Autokredit abbezahlen und noch mal ein Baby aufziehen musste, wünschte sie sich nichts mehr, als wieder in das Haus ihrer Mutter zu ziehen, damit Evelyn sich um alles kümmern konnte. Sie wollte den Kühlschrank öffnen und nach Essen sehen, das sie nicht kaufen musste. Sie wollte im Sommer die Klimaanlage aufdrehen, ohne sich über die Rechnung Sorgen machen zu müssen. Sie wollte bis Mittag schlafen und dann den ganzen Tag fernsehen. Und verdammt, wenn sie schon dabei war, könnte sie auch ihren Vater wiederauferstehen lassen, der vor elf Jahren gestorben war, damit er ihr zum Frühstück Pfannkuchen backen und ihr sagen konnte, wie hübsch sie war.
    Alles Hirngespinste. Evelyn schien recht glücklich damit zu sein, das Kindermädchen zu spielen, aber Faith gab sich nicht der Illusion hin, dass
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