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Hannas Entscheidung

Hannas Entscheidung

Titel: Hannas Entscheidung
Autoren: Kerstin Rachfahl
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Ben bedeckte ihre Ohren mit einem Lärmschutz. Sie ließ es geschehen, ohne ihn anzusehen. Obwohl sie sich festgehalten, hochgezogen und eingewickelt hatte, wirkte sie wie eine Puppe, zwar beweglich, aber innerlich ohne Leben. Er selbst war geschockt von dem, was sich auf dem Meer abgespielt hatte. Was war in Wolff gefahren, dass er einen Militärhubschrauber der Amerikaner abschoss? Hatte er allen Ernstes gedacht, er käme damit davon? Dass das Militär vor einem Gegenschlag zurückschreckte, es sich gefallen ließ, dass er sie nacheinander vom Himmel holte? Andererseits missfiel ihm die Handlungsweise des US-Militärs. Bei Einsätzen gab es häufig Diskussionen zwischen den Nationen. Dort, wo die Deutschen eine klare Linie zogen, wenn es um die Gefährdung von Zivilisten ging, priorisierten die Amerikaner den Erfolg eines Einsatzes. Für die Männer auf der Jacht empfand er kein wirkliches Bedauern. Wenn er ehrlich war, eher Erleichterung. Der Tod von Armin Ziegler und Konstantin Wolff bedeutete ein Leben für Hanna, ohne sich weiter verstecken zu müssen. War es nicht das, was sie gewollt hatte? Aber er wusste, Hanna akzeptierte einen solchen Preis für ein angstfreies Leben nicht, und er stellte sich die Frage, ob sie glauben würde, dass er damit nichts zu tun hatte. Ob sie zwischen dem, was er unter seinen Job verstand, und der Reaktion des amerikanischen Militärs auf so einen Angriff trennen würde.
     
    Hanna starrte aus dem Fenster der Baracke und sah zu, wie der zweite Hubschrauber landete. Einer der Männer hatte ihr trockene Sachen gebracht, samt Unterwäsche, Militärklamotten, die sie nur zögerlich angezogen hatte. Ihre Füße steckten in dicken Socken und Stiefeln, was sich bedeutend angenehmer anfühlte, als Stöckelschuhe zu tragen. Ihr Fuß, mit dem sie umgeknickt war, pochte und fühlte sich leicht geschwollen an. Darum würde sie sich später kümmern. Innerlich kam sie sich kalt und leblos vor. Ihr Verstand weigerte sich noch, all das zu verarbeiten, was sie heute erlebt hatte. Vier Männer waren vor ihren Augen getötet worden, darunter Philip Bornstedt, den sie kannte, der zu den Freunden ihrer Schwester zählte. Der Neffe der besten Freundin ihrer Mutter. Wie viele Männer waren auf dem Schiff gewesen, als es in die Luft gesprengt worden war, einfach so, vor ihren Augen? Befanden sie sich in einem demokratischen Land? Oder in einem Land, in dem nur das Recht der Starken galt? Wo zogen die Amerikaner die Grenze zwischen krimineller Tat und militärisch korrektem Vorgehen? Wie rechtfertigten sie das Versenken einer zivilen Jacht? In was für einer Welt lebte sie überhaupt?
    Dann sah sie das Bild des abstürzenden Hubschraubers vor sich. Ob die Soldaten das überlebt hatten? Sie hörte die Tür, wandte sich aber nicht um, spürte seine Nähe, doch die Kälte und das Gefühl des Alleinseins änderten sich nicht.
    »Hanna?«
    Sie antwortete nicht.
    »Hanna? Es tut mir leid, du musst noch Bericht erstatten.«
    Ohne ihn anzusehen, wandte sie sich vom Fenster ab und ging aus dem Raum. Zwei Soldaten nahmen sie mit.
     
    Ben sah mit gemischten Gefühlen, wie die Soldaten sie zwischen sich nahmen. Seine Anfrage, Hanna begleiten zu dürfen, war abgelehnt worden. Innerlich kochte er vor Wut, aber er wäre ebenso vorgegangen. Er hatte seine Berichtserstattung hinter sich und hatte seinen Vater informiert, dass alles in Ordnung sei und er ihm am nächsten Tag erklären würde, weshalb er ohne ein Wort von der Veranstaltung verschwunden war. Das Telefongespräch mit Hartmann dauerte länger. Er hatte ihm die Vorfälle in New York und den Tausch der Zwillinge geschildert. Hartmann versprach, sich um alles zu kümmern. In der nächsten Stunde sah Ben alle zwei Minuten auf die Uhr. Von einem Wachposten aufmerksam beobachtet, tigerte er den Flur auf und ab, bis sich die Tür öffnete und Hanna heraushumpelte.
    »What about your foot? Do you need a paramedic?«, fragte der Soldat, der sie begleitete.
    »No, I’m okay.«
    Ihr Fuß. Er hatte vergessen, dass sie bei der Flucht auf dem Parkplatz umgeknickt war. »Yes, she does«, korrigierte Ben und achtete nicht auf Hannas wütenden Blick.
     
    »Major Wahlstrom, you know your way around?«
    »Yes, Sergeant.« Er hütete sich davor, sie zu berühren oder zu stützen, ließ es aber auch nicht zu, dass sie einen anderen Weg einschlug. Der weibliche Sanitäter begutachtete die leichte Schwellung an Hannas Fußgelenk. Nachdem sie den Fuß abgetastet und gedreht
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