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Hannah, Mari

Hannah, Mari

Titel: Hannah, Mari
Autoren: Sein Zorn komme uber uns
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Seite des Marktplatzes kam gerade ein Paar aus dem Pub, das sie kannte, sein Atem schwebte deutlich sichtbar in der kalten Nachtluft. Sie sah den beiden nach, als sie Arm in Arm vorbei an schiefergedeckten Steinhäusern und einer Reihe hübscher, festlich geschmückter Bäume davongingen. Ihre Weihnachtslieder und ihr Lachen hallten noch in ihrem Kopf nach, als die beiden längst außer Sicht waren.
    In der Kirche war es eiskalt. Daniels ließ den Schneesturm hinter der schweren Eichentür zurück. Ihr war klar, dass die Heimfahrt beinahe unmöglich werden würde. Sie ließ die Hand in die Manteltasche gleiten, löste die Kerze aus der Zellophanhülle und zündete sie an. Dann holte sie tief Luft und machte sich auf den Weg durch das südliche Kirchenschiff, fest entschlossen, nicht zu beten. Das war der Moment, in dem sie die Leiche des Mädchens erblickte, die wie eine makabre Opfergabe quer über dem Altar lag und mit weit aufgerissenen Augen unverwandt zur hohen, gewölbten Decke emporstarrte.
    Daniels wich einen Schritt zurück. Die brennende Kerze fiel ihr aus der Hand und rollte über die steinernen Bodenfliesen. Ihr war schlecht vom Anblick des Blutes und des geschundenen Fleisches, und zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben hatte sie wirklich große Angst. Sie rührte sich nicht vom Fleck, nahm die Szene in sich auf, während sie darauf wartete, dass ihre antrainierten beruflichen Fertigkeiten sich einstellten. Sie musste sich mit aller Kraft zusammenreißen, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, wusste sie doch, was für eine entscheidende Zeugin sie in einer Ermittlung sein würde. Wenn Zeugen das Opfer eines Verbrechens entdecken, nehmen sie, bewusst oder unbewusst, eine Fülle von Einzelheiten auf: Temperatur, Stimmung, Anblick, Geräusche.
    Die flackernde Kerze jagte Schatten über die Wände.
    Daniels behielt die Nerven, widerstand der wachsenden Versuchung, um ihr Leben zu rennen. Ihre Augen suchten jede dunkle Ecke zu durchdringen, sie beobachteten und fixierten Eindrücke in ihrer Erinnerung. Den Kopf etwas schief gelegt, lauschte sie angestrengt. Nichts. Alles, was sie hörte, waren jahrealte Ratschläge, Tipps zur Selbstverteidigung, von denen sie gehofft hatte, sie niemals in die Tat umsetzen zu müssen.
    Dann sah sie ihn.
    Father Simon lag da, wo er gestürzt war, Blut rann von seiner Brust, er hielt eine Andachtskarte und ein Kruzifix fest in der Hand. Der tote Priester hatte etwas Anklagendes an sich, das Schuldgefühle in ihr weckte. Die Arbeit in der Mordkommission war ihr Traumjob, sie hatte ihn immer aufregend gefunden. Jetzt erkannte sie Mord als das, was er war: grausam, brutal, Übelkeit erregend – und zwar umso mehr, je persönlicher es einen betraf.
    Wenn sie nur eher gekommen wäre.

Elf Monate später

1
    Kate Daniels schaffte es nur mit Mühe, sich den Armen des Schlafs zu entwinden, das Licht einzuschalten und das Telefon zu suchen. Am anderen Ende der Leitung erlag Alan Brooks gerade einer schlimmen Attacke von Sprechdurchfall. Er redete schneller, als sie Notizen auf ihren Block kritzeln konnte.
    »Langsamer, AI …«, sagte sie, »ich komme nicht mehr mit.«
    »Ach, hören Sie doch auf. Wir sind hier in der britischen Partyhauptstadt, schon vergessen? Ich hab eine meilenlange Anrufliste vor mir liegen. Die halbe Welt will heute Abend mit mir sprechen. Außer dem armen Kerl, den Sie treffen sollen. Der hat’s schon hinter sich.«
    Während Brooks ihr weitere Informationen durchgab, schaltete Daniels die Freisprechanlage ein und sprang aus dem Bett. In ihrem Zimmer war alles für einen plötzlichen Einsatz vorbereitet: Ein Satz saubere Kleidung hing am Schrank, passende Schuhe und Tasche daneben, dazu ein frisch aufgeladenes Mobiltelefon und die Autoschlüssel. Ihre Uhr zeigte ein Uhr achtundzwanzig. Sie hatte weniger als zwei Stunden geschlafen. Nach einem langen Arbeitstag hatte sie noch drei Stunden lang Anfänger im Trainingskurs der Kriminalpolizei zum Thema kognitive Befragungstechniken unterrichtet. Eine Fertigkeit, die es wirklich wert war, entwickelt zu werden – eine bewährte Technik, mit der man Augenzeugen dazu bringen konnte, sich an bis zu 5 5 Prozent des Erlebten zu erinnern. Das Thema kam so gut an, dass die Teilnehmer sie später noch einluden, mit ihnen im Pub zu essen, um die Diskussion fortzuführen. Allen Bemühungen zum Trotz war sie erst sehr spät nach Hause gekommen.
    »Haben Sie eine Adresse für mich?«, fragte Daniels.
    »Court Mews
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