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Hannah, Mari

Hannah, Mari

Titel: Hannah, Mari
Autoren: Sein Zorn komme uber uns
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zwang. Um den Angreifer auszublenden, dachte sie an ihren Vater, der zu Hause auf sie wartete. Wie er da in dem gemütlichen Vorderzimmer saß, eine Kanne frischen Tee auf dem Holzofen, zwei Becher, die daneben warm standen – ihre Mutter, die bereits in ihr Bett gekuschelt lag.
    Die Wut ihres Angreifers wuchs, als er merkte, dass sie sich an einen anderen Ort versetzt hatte. Er schlug sie mitten ins Gesicht. Warmes Blut von ausgeschlagenen Zähnen lief in ihrem Mund zusammen.
    Hände.
    Seine Hände; grob zwischen ihren Beinen.
    Hände; grapschend, verletzend, fassten da hin, wo noch nie zuvor Hände sie berührt hatten.
    Ein Schweißtropfen fiel von seinem Kinn auf ihre Lippe, als er sich seinen Weg in ihr Inneres erzwang.
    Sarah war tief beschämt. Sie hatte ihre erste heilige Kommunion in dieser Kirche empfangen, vor den Augen ihrer stolzen Eltern. Sie drehte den Kopf weg, betete um Erlösung, konnte nur eine offene Tür erkennen.
    Wo war Father Simon?
    Warum kam er nicht?
    Der Mann hörte auf und erhob sich. Eine flüchtige Sekunde lang dachte Sarah, die Tortur sei zu Ende. Sie war es nicht. Er stampfte mit seinem Stiefelabsatz auf ihre Brust. Rippen brachen, das Atmen wurde ihr schwer. Sarah fühlte sich kalt und schwach, empfand aber überraschend wenig Schmerz. Sie schwebte außerhalb ihres Körpers, der sich unter jedem weiteren Schlag aufbäumte.
    Würde ihr Vater immer noch mit Tee und einer Umarmung auf sie warten?
    In einem Versuch, sich zu schützen, krümmte sich Sarah wie ein Embryo zusammen und zählte die verbleibenden Sekunden ihres kurzen Lebens.
    Eine Einsatzzentrale, in der die Zeit stehen geblieben war, übersät von den Überbleibseln einer Spontanparty. Luftschlangen hingen von der grellen Leuchtstoffröhre über Detective Chief Inspector Kate Daniels’ Kopf herab, und ein aufblasbarer Weihnachtsmann war wie betrunken über dem Tisch des Aktenführers zusammengesackt. Jemand hatte einem medizinischen Skelett ein blinkendes Rentiergeweih übergestülpt und es aufrecht auf den Stuhl des Superintendenten gesetzt. Fast kam es Daniels vor, als machte es sich mit seinem fixierten Kiefer über sie lustig. Als sie ihm die Zunge herausstreckte, fiel es plötzlich in sich zusammen, was sie vor Schreck zurückzucken ließ.
    Leicht beschämt lehnte sich Daniels in ihrem Stuhl zurück. Sie fragte sich, wie viele Menschen wohl um das sogenannte Fest der Liebe herum ihr Leben verlieren würden. So sehr sie sich auch bemühte, diesen finsteren Gedanken beiseite zu schieben, blieb er doch hartnäckig und brachte sie zurück zu dem unordentlichen Knochenhaufen auf dem Fußboden – eine makabre Erinnerung an die Aufgabe, vor der sie sich schon den ganzen Tag fürchtete. Sie sah auf die Uhr an der Wand. Halb zehn. Wenn sie jetzt aufbräche, könnte sie es noch rechtzeitig nach St. Camillus schaffen, um diese Kerze anzuzünden.
    Draußen war der Winter endgültig angebrochen. Ein Schneeschauer sah aus, als wollte er sich noch verdichten, während Daniels zu ihrem Auto eilte, einstieg und das Radio einschaltete. Die Verkehrsmeldungen warnten vor Chaos auf den Straßen – im Inland schlimmer als an der Küste –, was nicht gerade das war, was sie hören wollte. Sie nahm die kürzeste Strecke die Uferstraße entlang in Richtung Westen und bog von der Scotswood Bridge in die sechsundneunzig ein.
    Hätte der Abstecher sich irgendwie vermeiden lassen, wäre sie direkt nach Hause gefahren. Auf der normalerweise schon stark befahrenen zweispurigen Straße war der Verkehr beinahe zum Erliegen gekommen. Ein ununterbrochener Strom aus Rücklichtern erstreckte sich meilenweit entlang des Tals des Tyne, weil nur eine Fahrbahn passierbar war. Einige Fahrer weiter vorne fuhren offensichtlich zu schnell für die Straßenverhältnisse. Ihre Autos schwänzelten protestierend voran. Daniels wusste, dass es verrückt war, rollte aber dessen ungeachtet weiter, dankbar für den Allradantrieb des Toyotas. Der übrige Tag verschwamm, der nüchterne Detective in ihr wurde nach und nach von der pflichtbewussten Tochter verdrängt und von den Gedanken an eine Mutter, die ihr lange vor der Zeit genommen worden war – keine von ihnen war bereit gewesen für den Abschied.
    Etwa eine Stunde später kam Daniels bei St. Camillus an. Sie stieg aus, schloss den Wagen ab und nahm sich einen Augenblick Zeit, um den Weihnachtsbaum des Dorfes zu bewundern: eine riesige norwegische Fichte, dekoriert und bezahlt vom Gewerbeverein. Auf der anderen
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