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Hana

Hana

Titel: Hana
Autoren: Lauren Oliver
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und ihm Limo auf den Schuh geschüttet hatte. Und dann waren wir tagsüber aneinander vorbeigegangen: auf der Straße, am Strand. Er hob jedes Mal den Blick und sandte mir ein winziges Lächeln. An jenem Tag – dem Tag mit der Nachricht – war mir so gewesen, als hätte er mir zugezwinkert. Aber ich war mit Lena dort und er war mit Freunden im Jungenbereich. Es gab keine Möglichkeit für ihn, rüberzukommen und mit mir zu reden. Ich weiß immer noch nicht, wie es ihm gelungen ist, die Nachricht in meine Tasche zu schmuggeln; er muss gewartet haben, bis der Strand fast leer war.
    Seine Mitteilung war ebenfalls verschlüsselt. Das »gemeinsame Lernen« hieß, es gebe ein Konzert; »Erdkunde« bedeutete, dass es auf einer der Farmen stattfinden würde – auf der Roebling Farm, um genau zu sein.
    An jenem Abend ließen wir das Konzert sausen. Stattdessen gingen wir mitten auf eine Wiese, legten uns Ellbogen an Ellbogen nebeneinander ins Gras und blickten zu den Sternen hinauf. Irgendwann strich er mir mit einem Löwenzahn von der Stirn bis zum Kinn und ich unterdrückte den nervösen Drang zu kichern.
    Das war der Abend, an dem er mich küsste.
    Mein erster Kuss. Eine neue Art Kuss, wie die neue Art Musik, die immer noch leise in der Ferne erklang – wild und unrhythmisch, verzweifelt, leidenschaftlich.
    Seitdem habe ich ihn nur zweimal gesehen, beide Male in der Öffentlichkeit, und da konnten wir nichts weiter tun, als uns zuzunicken. Ich glaube, das ist noch schlimmer, als ihn gar nicht zu treffen. Dieses Verlangen, ihn zu sehen, ihn wieder zu küssen, seine Finger in meinen Haaren zu spüren, das ist auch so ein Jucken, ein riesiges, stetiges, kribbelndes Gefühl in meinem Blut und meinen Knochen.
    Es ist schlimmer als eine Krankheit. Es ist Gift.
    Und es gefällt mir.
    Wenn er heute Abend da ist – bitte lass ihn heute Abend da sein  –, werde ich ihn wieder küssen.
    Angelica wartet wie versprochen an der Ecke Washington und Oak Street auf mich. Sie steht im Schatten eines großen Ahorns, und während sie aus der Dunkelheit tritt – dunkle Haare, dunkle Schattenaugen –, stelle ich mir vor, dass sie Lena ist. Aber dann fällt das Mondlicht anders auf ihr Gesicht und Lenas Bild flattert davon. Angelicas Gesicht ist voller scharfer Kanten, vor allem ihre Nase, die eine Spur zu lang ist und sich nach oben reckt. Das ist, glaube ich, der Grund, weshalb ich sie so lange nicht leiden konnte – es sieht immer aus, als würde sie gerade etwas Ekliges riechen.
    Aber sie versteht mich. Sie versteht, wie es ist, sich eingesperrt zu fühlen, und sie versteht mein Bedürfnis, auszubrechen.
    »Du kommst spät«, sagt Angelica, aber sie lächelt.
    Heute gibt es keine Musik. Als wir über den Rasen zum Haus gehen, durchbricht ein gedämpftes Kichern die Stille, gefolgt von einem plötzlich anschwellenden Gespräch.
    »Vorsichtig«, sagt Angie, als wir die Veranda betreten. »Die dritte Stufe ist morsch.«
    Ich lasse sie aus, genau wie sie es tut. Das Holz der Veranda ist alt und knarrt unter unserem Gewicht. Alle Fenster sind verbarrikadiert und die schwachen Umrisse eines großen roten X sind immer noch sichtbar, über die Jahre ausgeblichen: In diesem Haus wohnte einst die Krankheit. Als wir klein waren, war es für uns eine Mutprobe, durch Deering Highlands zu gehen und so lange wie möglich die Hand auf den Türen der für unbewohnbar erklärten Häuser liegen zu lassen. Es ging das Gerücht, dass die gequälten Seelen der Leute, die an Amor deliria nervosa gestorben waren, immer noch in den Straßen umherwanderten und alle, die unbefugt die Gegend beträten, von der Krankheit dahingerafft würden.
    »Nervös?«, fragt Angie, die mein Schaudern spürt.
    »Mir geht’s gut«, sage ich und stoße die Tür auf, bevor sie die Hand danach ausstrecken kann. Ich gehe vor ihr rein.
    Als wir die Diele betreten, herrscht plötzlich Stille, ein Moment der Anspannung; alle im Haus erstarren. Dann sehen sie, dass alles in Ordnung ist und wir keine Aufseher oder Polizisten sind, und die Anspannung lässt nach. Es gibt hier keinen Strom und das Haus ist voller Kerzen. Sie kleben auf Tellern, stecken in leeren Coladosen oder stehen direkt auf dem Boden, und sie verwandeln die Wände in flackernde, sich auflösende Lichtmuster und Leute in Schatten. Und sie, die Schattenleute, sind überall: Sie ballen sich in Ecken und auf den paar Möbelstücken in den ansonsten leeren Zimmern, drücken sich in den Fluren herum und sitzen
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