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Hana

Hana

Titel: Hana
Autoren: Lauren Oliver
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würde, wenn er wüsste, dass ich erst letzte Woche einen Jungen geküsst habe, zugelassen habe, dass er mit den Fingerspitzen meine Schenkel erforscht, und selbst sein Schlüsselbein mit meinen Lippen erforscht habe – böse, verbotene Handlungen.
    »Sollen wir in den Garten hinuntergehen?«, fragt Fred beiläufig, als spürte er, dass mir das Thema unangenehm ist.
    »Nein«, sage ich so schnell und bestimmt, dass er überrascht aussieht. Ich hole tief Luft und bringe ein Lächeln zustande. »Ich … ich muss mal zur Toilette.«
    »Ich zeige sie dir«, sagt Fred.
    »Nein, bitte.« Und wieder kann ich die Dringlichkeit nicht aus meiner Stimme fernhalten. Ich werfe die Haare über die Schulter, befehle mir, mich zusammenzureißen, und lächele erneut, diesmal breiter. »Bleib ruhig hier. Genieß den Abend. Ich komm schon zurecht.«
    »Und auch noch unabhängig«, sagt Fred lachend.
    Auf dem Weg zur Toilette höre ich Stimmengemurmel aus der Küche – einige von Hargroves Dienstboten, nehme ich an und will schon weitergehen, als ich Mrs Hargrove deutlich das Wort Tiddles aussprechen höre. Mein Herzschlag setzt aus. Sie reden über Lenas Familie. Ich schleiche näher zu der halb offenen Küchentür, zunächst überzeugt, dass ich mich verhört habe.
    Aber dann sagt meine Mutter: »Na ja, wir wollten nicht, dass Lena sich wegen ihrer Familie schämen muss. Ein oder zwei faule Äpfel …«
    »Ein oder zwei faule Äpfel können den ganzen Baum verderben«, entgegnet Mrs Hargrove steif.
    Ich spüre Wut und Beunruhigung in mir aufsteigen – sie sprechen wirklich über Lena. Einen Moment stelle ich mir vor, wie ich die Küchentür auftrete, genau in Mrs Hargroves albern lächelndes Gesicht.
    »Sie ist ein sehr nettes Mädchen«, beharrt meine Mutter. »Hana und sie waren von klein auf unzertrennlich.«
    »Sie sind deutlich verständnisvoller als ich«, sagt Mrs Hargrove. Sie spricht verständnisvoller aus, als meinte sie dämlicher . »Ich hätte Fred nie erlaubt, sich mit jemandem abzugeben, dessen Familie so … unrein ist. Das Blut kommt irgendwann durch, nicht wahr?«
    »Die Krankheit ist nicht erblich«, sagt meine Mutter sanft. Ich verspüre den heftigen Drang, sie durch das Holz hindurch zu umarmen. »Das ist eine überkommene Vorstellung.«
    »Auch in überkommenen Vorstellungen steckt häufig ein wahrer Kern«, erwidert Mrs Hargrove gezwungen. »Außerdem kennen wir einfach nicht alle Faktoren, stimmt’s? Ein früher Kontakt hat sicherlich …«
    »Ja, natürlich«, sagt meine Mutter schnell. Ich merke, dass sie sich bemüht, Mrs Hargrove zu besänftigen. »Es ist alles sehr kompliziert, das gebe ich zu. Harold und ich haben einfach immer versucht, den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Wir hatten das Gefühl, dass die Mädchen sich irgendwann sowieso auseinanderleben würden. Sie sind zu verschieden – passen gar nicht zusammen. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass die Freundschaft überhaupt so lange gehalten hat.« Meine Mutter schweigt einen Moment. Ich spüre, wie meine Lunge sich schmerzhaft in meiner Brust zusammenzieht, als hätte man mich in eisiges Wasser getaucht.
    »Aber es scheint, als hätten wir letztlich Recht behalten«, fährt meine Mutter fort. »Diesen Sommer hatten die Mädchen kaum noch etwas miteinander zu tun. Schließlich hat sich also alles zum Besten gewendet.«
    »Das ist wirklich eine Erleichterung.«
    Bevor ich weitergehen oder irgendwie reagieren kann, geht die Küchentür auf. Ich stehe immer noch wie erstarrt direkt davor. Meine Mutter stößt einen kleinen Schrei aus, aber Mrs Hargrove wirkt weder überrascht noch verlegen.
    »Hana!«, zwitschert sie und lächelt mich an. »Was für ein perfektes Timing. Wir wollten gerade zum Nachtisch übergehen.«
    Wieder zu Hause in meinem Zimmer, kann ich an diesem Abend zum ersten Mal wieder normal atmen.
    Ich ziehe einen Stuhl ans Fenster. Wenn ich mein Gesicht an die Scheibe presse, kann ich gerade so Angelica Marstons Haus erkennen. Ihr Fenster ist dunkel und ich verspüre einen Stich der Enttäuschung. Ich muss heute noch irgendetwas unternehmen. Es juckt mich unter der Haut, ein elektrisierendes Kribbeln. Ich muss rausgehen, muss mich bewegen .
    Ich stehe auf, gehe im Zimmer hin und her, nehme das Handy vom Bett. Es ist spät – schon nach elf –, aber einen Moment überlege ich, bei Lena zu Hause anzurufen. Wir haben seit genau einer Woche nicht mehr miteinander gesprochen, seit der Nacht, als sie zu
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